Mit einem Mal war alles vollkommen still. Richard richtete sich auf.
Eine metallisch glänzende Erhebung schob sich langsam über den Rand der steinernen Ummauerung. Sie reckte sich zu einer massigen Gestalt empor, stieg unheimlich von alleine in die Höhe, Wasser gleich, das in der Luft zu stehen schien — nur war es kein Wasser. Seine glänzende Außenhaut spiegelte die gesamte Umgebung wie eine polierte Rüstung wider und verzerrte die Bilder, als es größer wurde und sich bewegte.
Es sah aus wie lebendiges Quecksilber.
Der Klumpen, mit dem Körper im Brunnen wie durch einen Hals verbunden, verzog sich immer weiter, verbog sich zu Kanten und Flächen, Falten und Bögen. Er verwandelte sich in das Gesicht einer Frau. Richard hätte fast das Atmen vergessen. Jetzt verstand er, warum Kolo die Sliph als eine ›Sie‹ bezeichnet hatte.
Endlich entdeckte das Gesicht ihn. Es sah aus wie eine vollkommen glatte Skulptur aus Silber — nur daß sie sich bewegte.
»Meister«, sprach sie mit unheimlicher Stimme, die im ganzen Raum widerhallte. Ihre Lippen hatten sich beim Sprechen nicht bewegt, doch sie lächelte, als sei sie höchst erfreut. Das silberne Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck der Neugier. »Du hast mich gerufen? Du möchtest reisen?«
Richard trat näher. »Ja. Reisen. Ich möchte reisen.«
Das freundliche Lächeln kehrte zurück. »Dann komm. Wir werden reisen.«
Richard wischte sich den Staub von den Händen an seinem Hemd ab. »Wie? Wie werden wir … reisen?«
Die silbernen Brauen zogen sich zusammen. »Du bist noch nie gereist?«
Richard schüttelte den Kopf. »Nein. Aber jetzt muß ich es. Ich muß in die Alte Welt.«
»Aha. Dort war ich schon oft. Komm, wir werden reisen.«
Richard zögerte. »Was soll ich tun? Was willst du, daß ich tue?«
Eine Hand bildete sich heraus und berührte den oberen Rand der Mauer. »Komm zu mir«, sagte die Stimme, durch den Raum hallend. »Ich werde dich hinbringen.«
»Wie lange dauert es?«
Der fragende Ausdruck kehrte zurück. »Wie lange? Von hier bis dort. So lange. Ich bin lang genug. Ich war bereits dort.«
»Ich meine … wie viele Stunden? Tage? Wochen?«
Sie schien nicht zu verstehen. »Die anderen Reisenden haben mich nie so etwas gefragt.«
»Dann kann es nicht lange dauern. Kolo hat auch nie etwas davon erwähnt.« Gelegentlich konnte das Tagebuch recht niederschmetternd sein, denn Kolo erläuterte nirgendwo, was sowieso alle wußten — damals. Er hatte auch gar nicht versucht, Wissen oder Informationen zu vermitteln.
»Kolo?«
Richard deutete auf die Gebeine. »Ich kenne seinen Namen nicht. Ich nenne ihn Kolo.«
Das Gesicht reckte sich aus dem Brunnen hervor, um über die Ummauerung zu blicken. »Ich kann mich nicht erinnern, das je gesehen zu haben.«
»Nun, er ist tot. Vorher hat er nicht so ausgesehen.« Richard entschied, es sei besser, nicht zu erklären, wer Kolo war, sonst erinnerte sie sich womöglich und war gekränkt. Das konnte er sich nicht leisten, er mußte zu Kahlan. »Ich bin in Eile. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn wir uns beeilen könnten.«
»Komm näher, damit ich entscheiden kann, ob du fähig bist zu reisen.«
Richard trat näher an die Mauer heran und blieb still stehen, während die Hand hervorkam und seine Stirn berührte. Er zuckte zurück. Sie war warm. Er hatte erwartet, daß sie kalt sei. Er ging zu der Hand zurück und ließ zu, daß die Handfläche über seine Stirn strich.
»Du kannst reisen«, meinte die Sliph. »Du verfügst über beide Seiten, die erforderlich sind. Aber in diesem Zustand wirst du sterben.«
»Was meinst du mit ›in diesem Zustand‹?«
Die quecksilberne Hand senkte sich neben ihm und deutete auf das Schwert, jedoch sorgsam darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen. »Dieser Gegenstand der Magie verträgt sich nicht mit dem Leben in der Sliph. Mit dieser Magie in meinem Inneren endet auch alles Leben in meinem Innern.«
»Soll das heißen, ich muß es hier zurücklassen?«
»Wenn du reisen willst, dann mußt du es, oder du wirst sterben.«
Richard war entschieden unwohl bei der Vorstellung, das Schwert der Wahrheit unbewacht zurückzulassen, vor allem, nachdem er erfahren hatte, wie viele Männer bei seiner Herstellung umgekommen waren. Er zog den Waffengurt über den Kopf und starrte auf die Scheide in seinen Händen. Er sah über die Schulter, hinüber zu dem Mriswith, der ihn beobachtete. Er konnte seinen Mriswithfreund bitten, auf das Schwert aufzupassen.
Nein. Er konnte niemanden bitten, die Verantwortung zu übernehmen und etwas so Gefährliches und Begehrtes zu bewachen. Das Schwert der Wahrheit war seine Verantwortung, nicht die eines anderen.
Richard zog das Schwert aus der Scheide, so daß das helle Klirren des Stahls durch den Raum hallte und allmählich verklang. Der Zorn der Magie verging jedoch nicht. Er durchtoste ihn donnernd.
Er hielt die Klinge in die Höhe, blickte an ihr entlang. Er fühlte, wie der erhabene Golddraht des Wortes WAHRHEIT in seine Handfläche schnitt. Was sollte er tun? Er mußte unbedingt zu Kahlan. Dennoch wollte er das Schwert während seiner Abwesenheit in Sicherheit wissen.
Dann fiel es ihm über den Ruf des Verlangens ein.
Er drehte das Schwert herum, das Heft mit beiden Händen umklammernd. Ächzend vor Anstrengung, die gespeist wurde aus der Magie, aus der tosenden Wut, die sie erzeugte, stieß er das Schwert nach unten.
Funken und Steinsplitter flogen davon, als Richard das Schwert bis zum Heft in einen gewaltigen Steinquader im Boden rammte. Als er seine Hände löste, spürte er noch immer die Magie in seinem Innern. Er mußte das Schwert zurücklassen, aber die Magie besaß er noch. Er war der wahre Sucher.
»Ich bin immer noch mit der Magie des Schwertes verbunden. Ich halte die Magie in meinem Innern zurück. Wird mich das töten?«
»Nein. Nur was die Magie hervorbringt, ist tödlich, nicht, was sie empfängt.«
Richard kletterte auf die Mauer aus Stein, und plötzlich begann er sich Sorgen zu machen. Nein, er mußte es tun. Es ließ sich nicht umgehen.
»Hautbruder.« Richard drehte sich zu dem Mriswith um, als dieser ihn anrief. »Du bist ohne Waffe. Nimm dies.« Er warf Richard eines seiner dreiklingigen Messer herauf. Richard fing es am Griff auf, als es in flachem Bogen durch die Luft segelte. Die seitlichen Stichblätter schmiegten sich zu beiden Seiten um sein Handgelenk, als er den gekreuzten Griff der Waffe mit seiner Faust umfaßte. Sie lag überraschend gut in der Hand, wie eine Verlängerung seines Armes.
»Die Yabree werden bald für dich singen.«
Richard nickte. »Danke.«
Der Mriswith erwiderte zögernd das Lächeln.
Richard drehte sich zu der Sliph um. »Ich weiß nicht, ob ich lange genug die Luft anhalten kann.«
»Ich sagte es dir bereits, ich bin lang genug, um unser Ziel zu erreichen.«
»Nein, ich meinte, ich brauche Atemluft.« Er atmete übertrieben ein und aus.
»Du atmest mich.«
Er lauschte auf ihre Stimme, die durch den Raum hallte. »Was?«
»Um zu überleben, wenn du reist, mußt du mich atmen. Beim ersten Mal wirst du dich fürchten, aber du mußt es tun. Wer es nicht tut, stirbt in mir. Habe keine Angst, ich werde dich am Leben erhalten, wenn du mich atmest. Wenn wir den anderen Ort erreichen, dann mußt du mich wieder aus- und die Luft einatmen. Davor wirst du dich ebenso fürchten. Aber du mußt es tun, sonst wirst du sterben.«
Richard machte ein ungläubiges Gesicht. Dieses Quecksilber sollte er einatmen? Brachte er es tatsächlich über sich, etwas Derartiges zu tun?
Er mußte zu Kahlan. Sie war in Gefahr. Er mußte es tun. Es ließ sich nicht umgehen.
Richard schluckte, dann nahm er einen tiefen, süßen Atemzug. »Also gut, ich bin bereit. Was muß ich tun?«
»Du mußt gar nichts tun. Das Tun übernehme ich.«
Ein Arm aus flüssigem Quecksilber kam hoch und legte sich um ihn, dabei zog sich ein warmer, wellenförmiger Griff zusammen und packte zu. Der Arm hob ihn von der Mauer und stürzte ihn hinab in die silbrige Gischt.
Plötzlich hatte Richard eine Vision: Er mußte daran denken, wie Mrs. Rencliff in den tosenden Fluten untergegangen war.