Ein Arm aus flüssigem Quecksilber kam hoch und legte sich um ihn, dabei zog sich ein warmer, wellenförmiger Griff zusammen und packte zu. Der Arm hob ihn von der Mauer und stürzte ihn hinab in die silbrige Gischt.
Plötzlich hatte Richard eine Vision: Er mußte daran denken, wie Mrs. Rencliff in den tosenden Fluten untergegangen war.
47
Verna blinzelte in das grelle Licht einer Lampe, als die Tür aufging. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Es war zu früh für Leomas Rückkehr. Jetzt schon zitterte sie vor Angst, die Tränen traten ihr in die Augen.
»Los, hier rein«, schnauzte Leoma jemanden an.
Verna setzte sich auf und sah, wie sich eine kleine, dürre Frau in den Eingang schob. »Wieso muß ich das tun?« beklagte sich eine vertraute Stimme. »Ich will ihre Zelle nicht saubermachen. Das gehört nicht zu meiner Arbeit.«
»Ich habe hier drinnen mit ihr zu arbeiten, und der Gestank macht mich fast blind. Jetzt geh dort rein und beseitige diesen Gestank, oder ich sperre dich hier zusammen mit ihr ein, um dir den gebührenden Respekt vor einer Schwester beizubringen.«
Murrend kam die Frau in die Zelle gewatschelt und schleppte ihren schweren Eimer mit Seifenwasser herein. »Stinkt tatsächlich«, verkündete sie. »Stinkt nach ihresgleichen.« Der Eimer wurde mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden abgesetzt. »Dreckige Schwester der Finsternis.«
»Wisch einfach mit etwas Seifenwasser durch und mach schnell. Ich habe zu arbeiten.«
Verna hob den Kopf und sah Millie, die sie anstarrte. »Millie…«
Verna drehte das Gesicht zur Seite, aber nicht schnell genug, bevor Millie sie anspuckte. Sie wischte sich den Speichel mit dem Handrücken von der Wange.
»Dreckiger Abschaum. Wenn ich mir vorstelle, daß ich Euch vertraut habe. Wenn ich mir vorstelle, daß ich Euch als Prälatin respektiert habe. Und die ganze Zeit habt Ihr dem Namenlosen gedient. Soweit es mich betrifft, könnt Ihr hier drin verfaulen. Euer wandelnder, dreckiger Leichnam erfüllt den Palast mit seinem Gestank. Hoffentlich peitschen sie Euch, bis Euch die Haut vom Leib —«
»Das reicht«, sagte Leoma. »Mach einfach sauber, dann kannst du dich aus ihrer abscheulichen Gegenwart befreien.«
Millie brummte angeekelt. »Kann mir nicht schnell genug gehen.«
»Keinem von uns gefällt es, sich im selben Raum mit einer Verruchten wie ihr aufzuhalten. Es ist jedoch meine Pflicht, sie zu verhören, und du könntest wenigstens dafür sorgen, daß es ein bißchen weniger stinkt.«
»Ja, Schwester. Für Euch werde ich es tun, für eine echte Schwester des Lichts, damit Ihr wenigstens nicht ihren Gestank zu ertragen braucht.« Millie spie noch einmal in Vernas Richtung.
Verna war den Tränen nahe. Es war demütigend, daß Millie diese schrecklichen Dinge über sie dachte. Und alle anderen auch. Sie war längst selbst nicht mehr völlig sicher, ob sie nicht stimmten. Die Schmerzensprüfung hatte ihr dermaßen den Kopf verdreht, daß sie sich nicht mehr darauf verlassen konnte, ob sie bei klarem Verstand war, wenn sie an ihre Unschuld glaubte. Vielleicht war es verkehrt, Richard ergeben zu sein. Schließlich war er auch nur ein Mensch.
Sobald Millie fertig war, würde Leoma aufs neue beginnen. Sie hörte sich selbst über die Aussichtslosigkeit ihrer Lage schluchzen. Als Leoma das Schluchzen hörte, lächelte sie.
»Leer den stinkenden Nachttopf aus«, sagte Leoma.
Millie blähte angewidert die Wangen auf. »Also schön, also schön, haltet nur Euren Rock fest, dann werde ich ihn leeren.«
Millie schob den Eimer mit dem Seifenwasser näher an Vernas Strohlager heran und holte den randvollen Nachttopf. Sich die Nase zuhaltend, trug sie ihn mit ausgestrecktem Arm aus der Zelle.
Als sie schlurfend den Korridor entlang verschwunden war, fragte Leoma: »Ist dir irgendeine Veränderung aufgefallen?«
Verna schüttelte den Kopf. »Nein, Schwester.«
Leoma zog die Augenbrauen hoch. »Die Trommeln. Sie haben aufgehört.«
Verna erschrak, als sie es bemerkte. Sie mußten aufgehört haben, während sie schlief.
»Weißt du, was das bedeutet?«
»Nein, Schwester.«
»Es bedeutet, daß der Kaiser nicht mehr fern ist und bald eintreffen wird. Vielleicht morgen. Er will, daß unser kleines Experiment Ergebnisse bringt. Heute abend wirst du entweder deiner Treue zu Richard abschwören, oder du wirst dich gegenüber Jagang verantworten müssen. Deine Zeit ist abgelaufen. Denk darüber nach, während Millie deinen Dreck wegmacht.«
Leise vor sich hinfluchend kam Millie mit dem leeren Nachttopf zurück. Sie stellte ihn in der hinteren Ecke ab und ging wieder daran, den Boden zu schrubben. Sie tunkte ihren Lappen ins Wasser, klatschte ihn auf den Boden und arbeitete sich langsam zu Verna vor.
Verna fuhr sich mit der Zunge über ihre aufgesprungenen Lippen und starrte das Wasser an. Auch wenn es seifig war, es würde ihr nichts ausmachen. Sie überlegte, ob sie es schaffen würde, einen Schluck davon hinunterzustürzen, bevor Leoma sie daran hinderte. Wahrscheinlich nicht.
»Eigentlich brauchte ich das nicht zu machen«, nörgelte Millie bei sich, aber laut genug, damit die beiden anderen es hören konnten. »Schlimm genug, daß ich im Zimmer des Propheten saubermachen muß, jetzt wo wir einen neuen haben. Ich dachte, ich brauchte nicht mehr im Zimmer eines Wahnsinnigen zu putzen. Es wird wohl langsam Zeit, daß eine jüngere Frau die Arbeit macht. Ein seltsamer Mann ist das. Propheten sind alle verrückt, ja, das sind sie. Dieser Warren gefällt mir auch nicht besser als der letzte.«
Verna wäre bei der Erwähnung von Warrens Namen fast in Tränen ausgebrochen, so sehr vermißte sie ihn. Sie fragte sich, ob sie ihn gut behandelten. Leoma beantwortete ihre unausgesprochene Frage.
»Ja, er ist tatsächlich etwas eigenartig. Aber die Prüfungen mit dem Halsring bringen ihn wieder auf Trab. Dafür werde ich sorgen.«
Verna wandte die Augen von Leoma ab. Ihm tat sie es also ebenfalls an. Oh, guter Warren.
Millie schob ihren Eimer mit einem Knie beim Schrubben näher. »Sieh mich nicht an. Ich will deinen ekelhaften Blick nicht auf meinem Körper liegen haben. Man kriegt ja eine Gänsehaut davon, als ob der Namenlose selbst einen ansähe.«
Verna senkte den Blick. Millie warf den Lappen in den Eimer und tauchte tief mit den Händen ein, um ihn auszuwaschen. Sie sah über die Schulter nach hinten, während sie den Lappen im Wasser hin und her schwenkte.
»Ich bin bald fertig. Nicht bald genug für mich, aber bald. Dann habt Ihr diese ruchlose Verräterin ganz alleine für Euch. Hoffentlich geht Ihr nicht zu behutsam mit ihr um.«
Leoma lächelte. »Sie bekommt, was sie verdient.«
Millie zog ihre Hände aus dem Seifenwasser. »Gut.« Dann stieß sie derb mit einer nassen, schwieligen Hand gegen Vernas Füße. »Nimm deine Füße weg! Wie soll ich den Boden wischen, wenn du hier sitzt wie festgewachsen?«
Verna spürte einen festen Gegenstand an ihrer Hüfte, als Millie ihre Hand wegzog.
»Dieser Warren ist auch so ein Ferkel. Ständig ist sein Zimmer das reinste Durcheinander. Heute früh war ich erst dort, und gestunken hat es fast so schlimm wie in diesem Schweinestall.«
Verna legte ihre Hände neben ihre Beine und schob sie unter die Oberschenkel, so als wollte sie sich abstützen, während sie die Füße für Millie anhob. Ihre Finger stießen gegen etwas Hartes, Dünnes. Anfangs wußte ihr benommener Verstand mit dem Gefühl nichts anzufangen. Dann wurde es ihr ruckartig klar.
Es war ein Dacra.
Ihre Brust schnürte sich zusammen. Ihre Muskeln wurden steif. Sie konnte sich kaum zwingen zu atmen.
Plötzlich spie ihr Millie wieder ins Gesicht, so daß sie zusammenzuckte und den Kopf wegdrehte. »Wage bloß nicht, eine ehrliche Frau auf diese Weise anzusehen! Halte deine Augen von mir fern!«
Verna wurde klar, daß Millie offenbar ihre Reaktion bemerkt hatte.
»Fertig«, meinte sie und richtete ihren drahtigen Körper auf, »es sei denn, Ihr wollt, daß ich sie bade. Wenn, dann solltet Ihr Euch das besser noch einmal durch den Kopf gehen lasen. Dieses gottlose Weibstück rühre ich nicht an.«