»Nimm einfach deinen Eimer und geh«, sagte Leoma mit wachsender Ungeduld.
Verna hielt den Dacra so fest mit ihrer Faust umklammert, daß ihr die Finger kribbelten. Ihr Herz pochte so heftig, als wollte es ihr die Rippen brechen.
Millie schlurfte aus der Zelle, ohne sich umzudrehen. Leoma stieß die Tür zu.
»Dies ist deine letzte Chance, Verna. Weigerst du dich auch weiterhin, wirst du dem Kaiser übergeben. Dann wirst du dir bald wünschen, du hättest mit mir zusammengearbeitet, soviel kann ich dir versprechen.«
Komm näher, dachte Verna. Komm näher.
Sie fühlte, wie die erste Schmerzwelle durch ihren Körper jagte. Sie ließ sich nach hinten auf das Lager fallen und drehte sich von Leoma fort. Komm näher.
»Setz dich auf und sieh mich an, wenn ich mir dir spreche!«
Verna bekam nur einen leisen Schrei heraus, blieb aber, wo sie war, in der Hoffnung, Leoma näher heranlocken zu können. Wenn sie aus dieser Entfernung zustieß, hatte sie keine Chance. Die Frau würde sie daran hindern, bevor sie die Entfernung überbrückt hatte. Sie mußte näher heran.
»Ich sagte, setz dich aufrecht hin!« Leomas Schritte kamen näher.
Gütiger Schöpfer, bitte lasse sie nahe genug kommen.
»Du wirst mich ansehen und mir sagen, daß du dich von Richard lossagst. Du mußt dich von ihm lossagen, damit der Kaiser in deine Gedanken eindringen kann. Er wird wissen, ob du deine Treue aufgegeben hast, glaube also nicht, du könntest lügen.«
Noch ein Schritt. »Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche!«
Noch ein Schritt. Eine Faust packte ihr Haar und riß ihren Kopf nach oben. Leoma war nahe genug, doch Vernas Arme brannten vor Schmerzen, und sie konnte ihre Hand nicht heben. Oh, gütiger Schöpfer, mach, daß sie die Prüfung nicht an meinen Armen beginnt. Laß sie mit den Beinen anfangen. Ich brauche meine Arme.
Statt in ihren Beinen anzufangen, schoß der nervenversengende Schmerz durch ihre Arme nach unten. Unter Aufbietung aller Kraft versuchte Verna, die Hand mit dem Dacra zu heben. Sie ließ sich nicht bewegen. Ihre Finger zuckten unter stechenden Schmerzen.
Allen Bemühungen zum Trotz wurden ihre Finger unter Krämpfen aufgerissen, und der Dacra fiel heraus.
»Bitte«, schluchzte sie, »nimm diesmal nicht meine Beine. Ich flehe dich an, nimm nicht meine Beine.«
Leoma riß ihr den Kopf an den Haaren nach hinten, dann schlug die Frau ihr ins Gesicht. »Beine, Arme, das ist vollkommen egal. Du wirst dich unterwerfen.«
»Du kannst mich nicht zwingen. Du wirst scheitern, und dann…« Weiter kam Verna nicht, bevor die Hand ihr wieder ins Gesicht schlug.
Der sengende Schmerz sprang auf ihre Beine über, die unkontrollierbar zuckten. Vernas Arme kribbelten, aber wenigstens konnte sie sie bewegen. Ihre Hand tastete, verzweifelt nach dem Dacra suchend, blind über das Lager.
Ihr Daumen stieß dagegen. Sie schloß die Finger um den kühlen Metallgriff und zog ihn in ihre Hand.
Unter Aufbietung all ihrer Kraft und Entschlossenheit rammte Verna den Dacra in Leomas Oberschenkel.
Leoma schrie auf und ließ Vernas Haare los.
»Sei still!« keuchte Verna. »Ich habe einen Dacra in dir. Beweg dich nicht.«
Langsam senkte Leoma eine Hand, um ihr Bein oberhalb des Dacra in ihrem Oberschenkelmuskel zu befühlen. »Du kannst unmöglich glauben, daß das funktioniert.«
Verna schluckte, kam wieder zu Atem. »Nun, ich denke, es wird sich herausstellen, nicht? Nach Lage der Dinge habe ich nichts zu verlieren. Du schon — dein Leben.«
»Sei vorsichtig, Verna, oder es wird dir sehr, sehr leid tun. Zieh ihn raus, und ich werde so tun, als wäre es nie geschehen. Zieh ihn einfach raus.«
»Oh, ich glaube, das ist kein guter Rat, Beraterin.«
»Ich habe die Gewalt über deinen Halsring. Ich brauche nichts weiter zu tun, als dein Han zu blockieren. Zwingst du mich dazu, wird es dir noch schlimmer ergehen.«
»Wirklich, Leoma? Nun, ich denke, ich sollte dir erklären, daß ich auf meinen zwanzig Jahren Reise eine Menge über den Gebrauch des Dacra gelernt habe. Es stimmt zwar, daß du mein Han über den Rada’Han blockieren kannst, aber nicht schnell genug, um zu verhindern, daß ich vorher einen winzigen Strom davon berühren kann. Nach meinen Erfahrungen wird das genügen, denke ich. Wenn ich mein Han berühre, bist du auf der Stelle tot.
Zweitens, um mein Han blockieren zu können, mußt du mit ihm über den Ring in Verbindung treten. Das verleiht dir die Fähigkeit, es zu beeinflussen — so funktioniert es. Was meinst du? Wird das Blockieren meines Han durch deine Berührung an sich schon den Dacra auslösen und dich töten? Ich weiß selbst nicht ganz genau, aber ich muß dir sagen, ich für meinen Teil, den Teil, der das Heft in der Hand hält, bin bereit, es auszuprobieren. Was meinst du? Willst du es ausprobieren, Leoma?«
Lange herrschte Schweigen in der schwach beleuchteten Zelle. Verna spürte, wie warmes Blut über ihre Hand rann. Endlich drang Leomas Stimme in die Stille ein. »Nein. Was soll ich tun?«
»Nun, zuerst einmal wirst du mir diesen Rada’Han abnehmen, und dann, da ich dich zu meiner Beraterin ernannt habe, werden wir uns ein wenig unterhalten — und du wirst mich beraten.«
»Wenn ich dir den Halsring abgenommen habe, wirst du den Dacra herausziehen. Dann werde ich dir sagen, was du wissen willst.«
Verna schaute in die von Panik erfüllten Augen, die sie beobachteten. »Du bist wohl kaum in der Position, Forderungen zu stellen. Ich bin in dieser Zelle gelandet, weil ich zu vertrauensselig war. Ich habe meine Lektion gelernt. Der Dacra bleibt, wo er ist, bis ich mit dir fertig bin. Wenn du nicht tust, was ich sage, bist du lebend für mich wertlos. Hast du das begriffen, Leoma?«
»Ja«, kam die schicksalergebene Antwort.
»Dann laß uns beginnen.«
Wie ein Pfeil schoß er in mörderischem Tempo voran, gleichzeitig jedoch glitt er mit der langsamen Eleganz einer Schildkröte im stillen Wasser einer mondbeschienenen Nacht dahin. Es gab weder warm noch kalt. Seine Augen sahen Licht und Dunkel in einem einzigen, gespenstischen Bild, während seine Lungen unter der süßen Gegenwart der Sliph, die er in seine Seele atmete, anschwollen.
Es war das Gefühl des vollkommenen Glücks.
Plötzlich war es vorbei.
Bilder explodierten rings um ihn. Bäume, Felsen, Sterne, der Mond. Bei diesem Panorama packte ihn das Entsetzen.
Atme, forderte sie ihn auf.
Die Vorstellung erschreckte ihn. Nein.
Atme, fordere sie ihn auf.
Er dachte an Kahlan, an sein Verlangen, ihr zu helfen, und atmete aus, leerte seine Lungen von dem Gefühl vollkommenen Glücks.
Widerstrebend, dennoch gierig, sog er die fremde Luft in sich hinein.
Geräusche stürzten von allen Seiten auf ihn ein — Insekten, Vögel, Fledermäuse, Frösche, Blätter im Wind, alles schnatterte, jubilierte, klickte, pfiff und raschelte — schmerzhaft in seiner Allgegenwart.
Ein Arm setzte ihn ermutigend auf der Steinmauer ab, während sich die nächtliche Welt ringsum in seinem Kopf setzte und vertraut wurde. Er sah seine Mriswithfreunde, die sich im dunklen Wald hinter den steinernen Ruinen rings um den Brunnen verteilten. Ein paar hockten auf verstreuten Quadern, ein paar standen zwischen Säulenresten. Offenbar befanden sie sich am Rand eines uralten, zerfallenen Gebäudes.
»Ich danke dir, Sliph.«
»Wir sind dort, wohin du reisen wolltest«, sagte sie, und ihre Stimme hallte durch die Nachtluft.
»Wirst du … hier sein, wenn ich wieder reisen möchte?«
»Wenn ich wach bin, bin ich stets bereit zu reisen.«
»Wann schläfst du?«
»Wenn du es mir sagst, Herr.«
Richard nickte, ohne recht zu wissen, wem oder was er zunickte. Er blickte hinaus in die Nacht und entfernte sich vom Brunnen der Sliph. Er kannte diesen Wald, nicht vom Augenschein, sondern von einem fast greifbaren Gefühl her. Es war der Hagenwald, wenn es sich auch um eine Stelle handeln mußte, die sehr viel tiefer in dem weiten Gebiet lag, als er sich je hineingewagt hatte, denn diesen aus Stein erbauten Ort hatte er noch nie gesehen. An den Sternen las er ab, in welcher Richtung Tanimura lag.