Mriswiths strömten in großer Zahl aus dem düsteren, umliegenden Wald zu der Ruine. Viele gingen mit einem ›Willkommen, Hautbruder‹ an ihm vorüber. Im Vorbeigehen schlugen die Mriswiths ihre dreiklingigen Messer leicht gegen seines und brachten beide zum Klingen.
»Möge dein Yabree bald singen, Hautbruder«, sagte ein jeder dabei.
Richard kannte die richtige Entgegnung nicht, also sagte er einfach: »Danke.«
Als die Mriswiths sich an ihm vorbei zur Sliph stahlen und gegen sein Yabree schlugen, hielt das sirrende Klingen jedesmal länger an, und das angenehme Summen wärmte seinen ganzen Arm. Als sich weitere Mriswiths näherten, hielt er es anders, so daß er nur sein Yabree gegen ihre schlagen konnte.
Richard blickte hoch zum aufgehenden Mond und zur Stellung der Sterne. Es war früher Abend, und am westlichen Himmel war noch ein schwaches Leuchten zu erkennen. Er hatte Aydindril mitten in der Nacht verlassen. Es konnte unmöglich dieselbe Nacht sein. Es mußte die darauffolgende Nacht sein. Er hatte fast einen ganzen Tag in der Sliph verbracht.
Es sei denn, es waren zwei Tage. Oder drei. Oder ein Monat, oder gar ein Jahr. Er hatte keine Möglichkeit, das festzustellen. Er wußte nur, daß es mindestens ein Tag war. Der Mond hatte dieselbe Größe. Vielleicht war es doch nur ein Tag.
Er wartete, um den nächsten Mriswith gegen sein Yabree schlagen zu lassen. Hinten stiegen sie in die Sliph. Eine regelrechte Schlange von ihnen wartete darauf, daß sie an die Reihe kamen. Es verstrichen nur Sekunden, bis wieder einer von der Mauer heruntersprang und sich in das schimmernde Quecksilber stürzte.
Richard blieb stehen, um zu spüren, wie der Yabree das wärmende Surren durch seinen ganzen Körper sandte. Lächelnd registrierte er das singende Summen, das leise Lied, das ihm angenehm in den Ohren und in seinen Gliedern klang.
Dann verspürte er ein störendes Verlangen, das das freudige Lied unterbrach.
Er hielt einen Mriswith an. »Wo werde ich gebraucht?« Der Mriswith zeigte mit seinem Yabree auf etwas. »Sie wird dich hinbringen. Sie kennt den Weg.«
Richard schlenderte in der vom Mriswith angegeben Richtung los. Im Schatten bei einer eingestürzten Mauer wartete eine Gestalt. Der Gesang seines Yabree trieb ihn weiter vor Verlangen.
Die Gestalt war kein Mriswith, sondern eine Frau. Er glaubte, sie im Schein des Mondes wiederzuerkennen.
»Guten Abend, Richard.«
Er trat einen Schritt zurück. »Merissa!«
Sie lächelte freundlich. »Wie geht es meinem Schüler? Viel Zeit ist vergangen. Ich hoffe, du bist wohlauf und dein Yabree singt für dich.«
»Ja«, stammelte er. »Er singt davon, daß jemand nach mir verlangt.«
»Die Königin!«
»Ja, die Königin. Sie verlangt nach mir.«
»Und? Bist du bereit, ihr zu helfen? Sie zu befreien?«
Er nickte. Sie drehte sich um und führte ihn tiefer in die Ruinen hinein. Mehrere Mriswiths schlossen sich ihnen an, als sie durch die eingefallenen Türen ins Innere traten. Mondlicht fiel durch efeuüberwucherte Mauerlücken, als die Wände jedoch stabiler wurden, entzündete sie im Gehen eine Flamme in ihrer Handfläche. Richard folgte ihr Stufen hinauf, die sich in die düsteren Ruinen schraubten, durch Korridore, die offenbar seit Tausenden von Jahren niemand mehr betreten hatte.
Als sie einen riesigen Saal betraten, genügte die Helligkeit des Lichtes in ihrer Hand plötzlich nicht mehr. Merissa schickte eine kleine Flamme in die Fackeln auf beiden Seiten und tauchte den riesigen Raum damit in ein flackerndes Licht. Ringförmig um den riesigen Saal zogen sich längst vergessene, mit Staub und Spinnweben bedeckte Emporen, von denen aus man auf ein gefliestes Wasserbecken blickte, das das Hauptgeschoß bildete. Die Fliesen, einst weiß, waren mittlerweile dunkel von Flecken und Schmutz, und das trübe Wasser des Beckens war durchsetzt mit Schlinggewächsen. Oben in der Mitte war die teils überkuppelte Decke offen, und dahinter ragten Gebäude in die Höhe.
Die Mriswiths glitten neben ihn und blieben dicht bei ihm stehen. Sie schlugen ihre Yabree gegen seine. Das angenehme Singen brachte das ruhige Zentrum in seinem Inneren zum Schwingen.
»Dies ist der Platz der Königin«, meinte einer »Wir können zu ihr, und wenn die Jungen geboren werden, dürfen sie sich entfernen, doch die Königin darf diesen Ort nicht verlassen.«
»Warum nicht?« fragte Richard.
Der andere Mriswith trat nach vorne und streckte seine Kralle aus. Als sie mit etwas Unsichtbarem in Berührung kam, glühte ein großer, kuppelförmiger Schild sanft leuchtend auf. Die glänzende Kuppel paßte genau unter jene aus Stein, nur daß sie oben kein Loch aufwies. Der Mriswith zog die Kralle zurück, und der Schild wurde wieder unsichtbar.
»Die Zeit der alten Königin läuft ab, und sie wird schließlich sterben. Wir haben alle von ihrem Fleisch gegessen, und aus dem letzten ihrer Jungen ist eine neue Königin hervorgegangen. Die neue Königin singt zu uns durch den Yabree und teilt uns mit, daß sie reichlich Junge hat. Es ist an der Zeit, daß die neue Königin weiterzieht und unsere neue Kolonie aufbaut.
Die Große Barriere ist verschwunden, und die Sliph wurde geweckt. Jetzt mußt du der Königin helfen, damit wir neue Reiche gründen können.«
Richard nickte. »Ja. Sie muß frei sein. Ich kann ihr Verlangen spüren. Es erfüllt mich mit dem Gesang. Warum habt ihr sie nicht befreit?«
»Das können wir nicht. So wie du gebraucht wurdest, um die Türme auszuschalten und die Sliph aufzuwecken, so kannst auch nur du die Königin befreien. Es muß geschehen, bevor du zwei Yabree in Händen hältst und sie beide zu dir singen.«
Geleitet von seinem Instinkt ging Richard zur Treppe an der Seite. Er spürte, daß der Schild am unteren Rand stärker war. Er mußte oben durchbrochen werden. Er hielt den Yabree vor seine Brust und stieg die steinernen Stufen hinauf. Er versuchte, sich vorzustellen, wie wundersam zwei von ihnen wären. Sein tröstliches Lied beruhigte ihn, doch das Verlangen der Königin trieb ihn weiter. Die Mriswiths blieben zurück, Merissa dagegen folgte ihm.
Richard bewegte sich, als wäre er den Weg schon einmal gegangen. Die Stufen führten nach draußen, dann eine Wendeltreppe neben den eingestürzten Säulen hinauf. Das Mondlicht warf zackige Schatten zwischen die schroffen Steine, die sich inmitten der Ruinen erhoben.
Endlich erreichten sie die Spitze eines kleinen, kreisrunden Beobachtungsturmes, zu dem seitlich Pfeiler aufstrebten, die weiter oben durch die Überreste einer mit Wasserspeiern verzierten Balkenkonstruktion verbunden waren. Offenbar hatte diese einst die gesamte Kuppel umspannt und Türme wie den, auf dem sie standen, miteinander verbunden. Von dem hohen Turm aus konnte Richard durch die Kuppelöffnung nach unten blicken. Das gewölbte Dach stand voller gewaltiger Säulen, die Dornen gleich nach außen und in Reihe nach unten verliefen.
Merissa, in einem roten Kleid, der Farbe, die sie stets getragen hatte, wenn sie zu ihm gekommen war, um ihn zu unterrichten, schmiegte sich fest an ihn und blickte schweigend hinunter in die Kuppel.
Richard spürte, wie die Königin unten in dem trüben Becken nach ihm rief, ihn drängte, sie zu befreien. Das Singen seines Yabree fuhr ihm in die Knochen.
Er streckte die Hand aus und ließ sein Verlangen nach außen strömen. Er streckte den anderen Arm nach vorne und richtete den Yabree parallel zu den Fingern seiner anderen Hand nach unten. Die stählernen Messer erklangen, von der Kraft, die durch ihn hindurchströmte, in Schwingungen versetzt.
Die Klingen des Yabree schwangen, ihr Surren wurde höher, bis die Nacht aufschrie. Der Ton war schmerzhaft, doch Richard ließ es nicht leiser werden. Merissa wandte sich ab und hielt sich die Ohren zu, als die Luft vom Geheul des Yabree widerhallte.