Wenn nötig, würde er den Palast der Propheten Stein für Stein niederreißen, um Kahlan und seine Freunde zu finden, doch er war es leid, ein weiteres Mal gegen das Dritte Gesetz der Magie zu verstoßen, und beschloß, es diesmal wenigstens mit Vernunft zu versuchen.
Gütige Seelen, wo fing das eine an, wo endete das andere?
Am äußeren Tor, das in das Gelände der Prälatin führte, stand Kevin Andellmere Wache. Richard kannte Kevin; ihm konnte man vermutlich trauen. »Vermutlich trauen« reichte jedoch nicht, also hielt Richard das Mriswithcape fest um seinen Körper gehüllt und schlich an Kevin vorbei ins Innere des Geländes. In der Ferne konnte Richard das derbe Lachen mehrerer Männer hören, die einen Weg heraufkamen, aber sie waren noch ein gutes Stück entfernt.
Richard kannte die ehemaligen Beraterinnen der Prälatin. Eine war umgekommen, als die andere, Schwester Ulicia, die Prälatin überfallen hatte. Nach dem Überfall waren Schwester Ulicia und fünf weitere Schwestern der Finsternis an Bord eines Schiffes, der Lady Sefa, entkommen. Die Schreibtische draußen vor dem Büro der Prälatin waren zur Zeit unbesetzt.
Weder im Korridor noch im Vorzimmer war irgend jemand, und die Tür zum Büro der Prälatin stand offen, also ließ Richard das Mriswithcape auseinanderfallen und lockerte seine Konzentration. Er wollte, daß Ann ihn erkannte.
Das Mondlicht, das durch die Doppeltür an der hinteren Seite des dunklen Raumes fiel, zeichnete ihren Umriß deutlich genug ab, um zu erkennen, daß sie im Sessel am Schreibtisch saß. Im schwachen Licht konnte er sehen, daß sie den Kopf gesenkt hielt. Offensichtlich war sie eingenickt.
»Prälatin«, rief er vorsichtig, um sie nicht aus dem Schlaf zu schrecken. Sie rührte sich nicht. Ihr Kopf kam ein kleines Stück hoch, sie hob die Hand. »Ich muß mit Euch sprechen, Prälatin. Hier ist Richard. Richard Rahl.«
Ein Glühen entzündete sich in ihrer Handfläche.
Schwester Ulicia sah lächelnd zu ihm hoch. »Zum Sprechen bist du gekommen, ja? Wie überaus interessant. Nun, ein Gespräch käme sehr gelegen.«
Als ihr boshaftes Grinsen breiter wurde, machte Richard einen Schritt zurück, während seine Hand zum Schwert griff.
Er hatte kein Schwert.
Er hörte, wie sich die Tür mit einem Knall hinter ihm schloß.
Er wirbelte herum und erblickte vier seiner Ausbilderinnen: die Schwestern Tovi, Cecilia, Armina und Merissa. Als sie näher kamen, sah er, daß sie alle einen Ring durch die Unterlippe trugen. Nur Nicci fehlte. Sie alle grinsten wie hungrige Kinder, die nach drei Fastentagen auf ein Stück Kuchen starren.
Richard spürte, wie das Verlangen in seinem Inneren zu brennen begann.
»Bevor du irgendeine Dummheit machst, Richard, solltest du besser erst einmal zuhören, oder du stirbst auf der Stelle.«
Er hielt inne und sah Merissa an. »Wieso seid Ihr schneller wieder hier als ich?«
Sie zog die Brauen über den finsteren, boshaften Augen hoch. »Ich bin auf meinem Pferd zurückgeritten.«
Richard drehte sich wieder zu Ulicia um. »Das alles war geplant, nicht wahr? Das habt Ihr getan, um mich in die Falle zu locken.«
»Ganz recht, mein Junge, und du hast deine Rolle vorzüglich gespielt.«
Er zeigte nach hinten auf Merissa, während er zu Ulicia sprach. »Woher wußtet Ihr, daß ich nicht getötet werden würde, als sie mich von diesem Turm hinunterwarf?«
Ulicias Lächeln erlosch, als sie Merissa wütend ansah. Der Blick verriet Richard, daß Merissa sich über ihre Anweisungen hinweggesetzt hatte.
Ulicia fixierte Richard wieder. »Entscheidend ist, daß du hier bist. So, und jetzt beruhige dich, sonst kommt noch jemand zu Schaden. Du bist vielleicht mit beiden Seiten der Gabe geboren worden, aber auch uns stehen beide Seiten der Magie zur Verfügung. Selbst wenn es dir gelänge, eine oder zwei von uns zu töten, so kannst du uns unmöglich alle erwischen — und dann wird Kahlan sterben.«
»Kahlan…« Richard funkelte sie wütend an. »Ich höre.«
Ulicia faltete die Hände. »Hör zu, Richard, du hast ein Problem. Zu deinem Glück haben wir auch eins.«
»Was für ein Problem?«
Ihr Blick wurde härter, bekam etwas kalt Drohendes. »Jagang.«
Die anderen gingen um den Tisch herum und stellten sich neben Ulicia. Ihnen allen war das Lächeln vergangen. Der Ekel in ihrem Blick, als der Name des Kaisers fiel, selbst bei den freundlich wirkenden Tovi und Cecilia, schien Stein verbrennen zu können.
»Du mußt verstehen, Richard, es ist fast Zeit, zu Bett zu gehen.«
Richard runzelte die Stirn. »Was?«
»Du bekommst in deinen Träumen keinen Besuch von Kaiser Jagang. Wir schon. Er wird für uns allmählich zum Problem.«
Richard spürte die Beherrschung, mit der sie ihre Stimme zügelte. Diese Frau wollte etwas, das wichtiger war als das Leben selbst.
»Probleme mit dem Traumwandler, Ulicia? Nun, das ist mir fremd. Ich schlafe selig wie ein kleines Kind.«
Normalerweise wußte Richard, wann ein Mensch mit der Gabe sein Han berührte, er fühlte es oder sah es bei der betreffenden Person in den Augen. Die Luft um diese Frauen knisterte heftig. Hinter all diesen Augen schien genügend Energie verborgen, um einen Berg zum Schmelzen zu bringen. Und das war offenbar noch nicht genug. Offenbar war ein Traumwandler ein ernstzunehmender Gegner.
»Also gut, Ulicia, kommen wir zur Sache. Ich will Kahlan, und Ihr wollt auch etwas. Was?«
Ulicia befingerte den Ring an ihrer Lippe und wich seinem Blick aus. »Die Sache muß entschieden werden, bevor wir einschlafen. Ich habe meinen Schwestern soeben von dem Plan erzählt, den ich mir ausgedacht habe. Nicci konnten wir nicht finden, um sie teilhaben zu lassen. Wenn wir schlafen gehen, bevor die Angelegenheit entschieden ist, und eine von uns davon träumt…«
»Entschieden? Ich will Kahlan. Sagt mir einfach, was Ihr wollt.«
Ulicia räusperte sich. »Wir wollen dir die Treue schwören.«
Richard starrte fassungslos, konnte nicht einmal mit den Augen blinzeln. Hatte er tatsächlich gehört, was er meinte, gehört zu haben? »Ihr seid Schwestern der Finsternis. Ihr kennt mich, und Ihr wollt mich töten. Wie könnt Ihr Euren Eid an den Hüter brechen?«
Ulicia hob den eisenharten Blick. »Ich habe nicht gesagt, daß wir dergleichen wollen. Ich sagte, wir wollen dir die Treue schwören, hier, in der Welt des Lebendigen. In Anbetracht der Lage glaube ich nicht, daß beides unvereinbar ist.«
»Nicht unvereinbar! Seid Ihr jetzt auch noch verrückt geworden?«
Ihre Augen bekamen etwas Unheilverkündendes. »Möchtest du sterben? Willst du, daß Kahlan stirbt?«
Richard bemühte sich, Ruhe in seine Gedanken zu bringen. »Nein.«
»Dann sei still und hör zu. Wir haben etwas, das du willst. Du hast etwas, das wir wollen. Jeder von uns hat seine Bedingungen. Du, zum Beispiel, willst Kahlan, aber du willst sie lebend und wohlauf. Ist das korrekt?«
Richard zahlte ihr den unheilvollen Blick mit gleicher Münze heim. »Das wißt Ihr doch. Aber wie kommt Ihr darauf, ich würde einen Pakt mit Euch schließen? Ihr habt versucht, Prälatin Anna umzubringen.«
»Nicht nur versucht, es ist mir auch gelungen.«
Richard schloß die Augen und stöhnte gequält auf. »Ihr gebt zu, sie umgebracht zu haben, und dann erwartet Ihr, ich würde darauf vertrauen…«
»Meine Geduld neigt sich dem Ende zu, junger Mann, und deiner zukünftigen Braut läuft die Zeit davon. Wenn du sie nicht fortschaffst, bevor Jagang hier eintrifft, dann, das versichere ich dir, besteht keine Hoffnung, daß du sie je wiedersiehst. Du hast keine Zeit, nach ihr zu suchen.«
Richard schluckte. »Also gut. Ich höre.«
»Du hast das Schloß am Tor des Hüters in diese Welt wieder angebracht und damit unsere Pläne durchkreuzt. Dadurch hast du zudem die Macht des Hüters in dieser Welt verringert und das Gleichgewicht zwischen ihm und dem Schöpfer wiederhergestellt. In diesem von dir geschaffenen Gleichgewicht macht Jagang nun seinen entscheidenden Zug, um die Welt an sich zu reißen.