Er packte ihr weißes Unterkleid mit einer Faust und riß sie hoch. »Wovon redest du? Was hat Mama dir gesagt, du widerwärtige streganicha?«
Die attraktive Frau keuchte und schnappte nach Luft. »Daß Ihr derjenige seid, mein Bruder. Der zur Größe bestimmt ist. Sie sagte, ich muß verhindern, daß die Menschen auf mich aufmerksam werden — damit sie nur Euch beachten. Sie sagte, Ihr seid es, der wichtig ist. Aber sie meinte auch, Ihr dürftet Eure Gabe auf keinen Fall benutzen.«
»Du lügst! Mama hat nie dergleichen gesagt! Mama wußte nichts davon!«
»Doch, Tobias, das hat sie. Auch sie war ein wenig von der Gabe beeinflußt. Die Schwestern kamen, um Euch mitzunehmen. Wir haben Euch geliebt und wollten nicht, daß sie den kleinen Tobias abholen.«
»Ich bin nicht mit dem Makel behaftet.«
»Doch, es ist wahr, mein Bruder. Sie meinten, Ihr habet die Gabe, und wollten Euch zum Palast der Propheten bringen. Mama meinte zu mir, wenn sie ohne Euch zurückgingen, würden sie andere schicken. Wir haben sie getötet. Mama und ich. Daher stammt auch die Narbe an Eurem Mund — von dem Kampf mit ihnen. Sie meinte, wir müßten sie töten, damit sie keine anderen schicken. Sie meinte, ich müsse verhindern, daß Ihr je Gebrauch von Eurer Gabe macht, sonst würden sie Euch holen.«
Brogans Brust hob und senkte sich vor Zorn. »Alles Lügen! Du hast den Blitz erzeugt, und du benutzt wegen der anderen den Betörungsbann.«
»Nein«, weinte sie. »Sie haben meine hübschen Sachen verbrannt. Mama meinte, die Größe sei dein Schicksal, es könne aber auch alles verdorben werden. Sie brachte mir bei, wie ich die hübschen Sachen benutzen kann, um mein Äußeres zu verbergen und dich daran zu hindern, deine Gabe zu benutzen. Wir wollten, daß du ein großer Mann wirst.
Jetzt sind meine hübschen Sachen dahin. Ihr habt den Blitz erzeugt.«
Brogan starrte mit wildem Blick ins Leere, so als sähe er Dinge, die keiner der anderen sah. »Das ist nicht der Makel«, sagte er leise. »Das bin ich allein. Der Makel ist böse. Das ist nicht böse. Das bin ich allein.«
Brogans Augen fanden ein neues Ziel, als er sah, wie Kahlan sich bemühte aufzustehen. Im Zimmer blitzte es grell auf, als er einen weiteren Blitz durchs Zimmer schleuderte. Er scharrte unter der Decke über ihrem Kopf entlang, während sie zur Tür stürzte. Brogan sprang auf, um sich auf sie zu werfen.
»Tobias! Halt! Ihr dürft Eure Gabe nicht benutzen!«
Tobias Brogan starrte sie mit einer unheimlichen Ruhe an. »Das ist ein Zeichen. Die Zeit ist gekommen. Ich habe es immer gewußt.« Blaue Lichtblitze zuckten zwischen seinen Fingerspitzen, als er eine Hand vor sein Gesicht hielt. »Das ist nicht der Makel, Lunetta, sondern göttliche Kraft. Der Makel wäre häßlich. Dies ist wunderschön.
Der Schöpfer hat sein Recht verwirkt, mir zu befehlen. Der Schöpfer ist ein Verderbter. Nun habe ich die Macht. Die Zeit, sie zu gebrauchen, ist gekommen. Jetzt muß ich über die Menschheit zu Gericht sitzen.« Er drehte sich zu Kahlan um. »Jetzt bin ich der Schöpfer.«
Lunetta hob flehend einen Arm. »Tobias, bitte —«
Er wirbelte zu ihr zurück. Tödliche Schlangen aus Licht wanden sich um seine Hände. »Was ich habe, ist voller Schönheit. Ich will nichts mehr hören von deinem Schmutz und deinen Lügen. Du und Mama, ihr seid Verderbte.« Er zog sein Schwert, dessen Klinge vom Licht umwunden wurde, und schwenkte es in der Luft.
Sie runzelte vor Konzentration die Stirn »Ihr dürft Eure Gabe nicht benutzen, Tobias. Auf keinen Fall.« Das flackernde Licht an seinen Händen erlosch.
»Was mein ist, werde ich auch benutzen!« Das Licht an seinen Fingern leuchtete erneut auf und tanzte an der Klinge entlang. »Ich bin jetzt der Schöpfer. Ich habe die Macht, und ich sage, du mußt sterben!«
In seinen Augen leuchtete der Wahnsinn, als er wie versteinert auf das Licht starrte, das an seinen Fingerspitzen knisterte.
»Dann«, flüsterte Lunetta, »seid Ihr der wahre Verderbte, und ich muß Euch vernichten, wie Ihr es mir beigebracht habt.«
Eine glühende Linie hellroten Lichts flackerte in Lunettas Hand auf und durchbohrte Tobias Brogans Herz.
In der rauchgeschwängerten Stille tat er einen letzten Atemzug und brach zusammen.
Da sie nicht wußte, wie Lunetta reagieren würde, bewegte Kahlan sich nicht und verhielt sich so mucksmäuschenstill wie ein Kitz im Gras. Adie streckte sachte eine Hand aus und redete mit tröstlichen Worten in ihrer Muttersprache auf sie ein.
Lunetta schien sie nicht zu hören. Ausdruckslos kroch sie zur Leiche ihres Bruders und nahm seinen Kopf in den Schoß. Kahlan glaubte, sich übergeben zu müssen.
Plötzlich trat Galtero ins Zimmer.
Er packte Lunetta an den Haaren und riß ihren Kopf nach hinten. Kahlan inmitten der Trümmer an der Wand hinter ihm bemerkte er nicht.
»Streganicha«, stieß er wüst hervor.
Lunetta machte keinerlei Anstalten, Widerstand zu leisen. Offenbar war sie völlig weggetreten. Ganz in der Nähe lag Brogans Schwert. Kahlan stürzte sich darauf. Verzweifelt packte sie die Waffe und hob sie auf. Sie war nicht schnell genug.
Galtero schlitzte Lunetta mit dem Messer die Kehle auf. Noch bevor Lunetta auf dem Boden lag, durchbohrte ihn Kahlan mit dem Schwert.
Als er wankte, riß sie das Schwert heraus. »Adie, bist du verletzt?«
»Äußerlich nicht, mein Kind.«
Kahlan packte Adies Hand, und als sie nach einer sorgfältigen Untersuchung zu der Gewißheit gelangt war, daß Lunetta den Schild tatsächlich entfernt hatte, bevor sie das Zimmer betreten hatten, traten die beiden nach draußen auf den Korridor.
Auf jeder Seite lag die Leiche einer Schwester: ihrer beiden Wachen. Lunetta hatte die zwei umgebracht.
Kahlan hörte Stiefel, die die Treppe heraufgepoltert kamen. Adie und sie sprangen über das blutige Chaos am anderen Ende des Korridors hinweg und rannten den Dienstbotenaufgang hinunter durch den Hintereingang nach draußen. Sie sahen sich im Dunkeln um, sahen niemand, hörten aber in der Ferne einen Tumult — das Klirren von Stahl. Zusammen, Hand in Hand, rannten sie um ihr Leben.
Kahlan spürte, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
Mit gesenktem Kopf, damit die Schwester sie nicht erkannte, durchquerte Ann den schwachbeleuchteten Gewölbekeller. Zedd folgte ihr auf dem Fuße. Die Frau hinter dem Tisch erhob sich mit einem mißtrauischen Stirnrunzeln und trat ihr entschlossen entgegen.
»Wer ist da?« fuhr Schwester Becky sie schroff an. »Hier unten darf niemand mehr hinein. Alle sind dahingehend unterrichtet worden.«
Ann spürte, wie Schwester Becky ihr mit ihrem Han einen Stoß versetzte und sie zum Stehen brachte, als sie auf sie zugelaufen kam. Als Ann den Kopf hob, riß die andere Schwester die Augen auf.
Ann durchbohrte sie mit dem Dacra, und ihre Augen schienen von innen her aufzublitzen, bevor die Frau zusammenbrach.
Zedd sprang zur Seite. »Du hast sie getötet! Du hast gerade eine schwangere Frau getötet!«
»Du warst es«, erwiderte Ann leise, »der das Todesurteil über sie gesprochen hat. Ich bete darum, daß du die Hinrichtung einer Schwester der Finsternis und nicht einer Schwester des Lichts angeordnet hast.«
Zedd riß sie am Arm herum. »Hast du den Verstand verloren, Frau?«
»Ich habe den Schwestern des Lichts befohlen, den Palast zu verlassen. Ich habe ihnen erklärt, daß sie fliehen müssen. Zahllose Male habe ich dich gebeten, mich das Reisebuch benutzen zu lassen. Ich brauchte eine Bestätigung, daß sie getan haben, wie ihnen befohlen worden war. Du hast dich geweigert, mir die Benutzung des Reisebuches zu erlauben, daher muß ich annehmen, daß meine Anweisungen befolgt worden sind.«
»Das ist keine Entschuldigung dafür, sie umzubringen! Du hättest sie einfach außer Gefecht setzen können!«
»Wenn meine Befehle befolgt worden sind, dann ist sie eine Schwester der Finsternis. In einem fairen Kampf gegen eine von ihnen habe ich keine Chance. Du auch nicht. Das Risiko durften wir nicht eingehen.«
»Und wenn sie nicht eine der Schwestern des Hüters ist?«