Richard schmunzelte. »Ich bin stolz auf Euch, Verna. Steckt ihn also wieder an.«
»Richard, Ann ist nicht … Man hat mir den Ring abgenommen … ein Gericht hat mich verurteilt … und als Prälatin abgesetzt.«
Schwester Dulcinia trat vor. »Wir wurden von den anderen überstimmt, aber wir haben alle an Euch geglaubt. Ihr wurdet von Prälatin Annalina ernannt. Steckt den Ring wieder an.«
Verna nickte den Schwestern unter Tränen dankbar zu, als diese erklärten, sie seien derselben Ansicht. Sie streifte den Ring wieder über ihren Finger und küßte ihn. »Wir müssen alle Leute sofort von hier wegbringen. Die Imperiale Ordnung ist auf dem Weg hierher, um den Palast einzunehmen.«
Richard packte sie am Arm und zog sie wieder herum. »Was meint Ihr damit, ›die Imperiale Ordnung ist auf dem Weg hierher, um den Palast einzunehmen‹? Was wollen sie im Palast der Propheten?«
»Die Prophezeiungen. Kaiser Jagang will sie dazu benutzen, die Gabelungen in den Büchern zu erkennen, damit er die Geschehnisse zu seinen Gunsten abändern kann.«
Den anderen Schwestern hinter Verna stockte der Atem. Warren schlug sich stöhnend die Hände vors Gesicht.
»Außerdem«, fügte Verna hinzu, »hat er die Absicht, hier zu leben, unter dem Bann des Palastes, damit er die Welt beherrschen kann, sobald er mit Hilfe der Prophezeiungen jeden Widerstand gebrochen hat.«
Richard ließ ihren Arm los. »Das dürfen wir nicht zulassen. Wir würden an jeder Gabelung einen Rückschlag erleiden. Wir hätten keine Chance. Die Welt hätte jahrhundertelang unter seiner Tyrannei zu leiden.«
»Wir können nichts dagegen tun«, sagte Verna. »Wir müssen fort, sonst werden wir hier allesamt getötet. Und dann hätten wir keine Möglichkeit mehr, zu helfen oder uns zu überlegen, wie wir zurückschlagen können.«
Richard ließ den Blick über die versammelten Schwestern wandern, von denen er viele kannte, dann sah er Verna wieder an. »Und wenn wir den Palast zerstörten, Prälatin?«
»Was! Wie willst du das tun?«
»Ich weiß nicht. Aber ich habe die Türme zerstört, und auch die waren von Zauberern aus alter Zeit errichtet worden. Und wenn es eine Möglichkeit gäbe?«
Verna fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und starrte ins Leere. Die Schar der Schwester stand schweigend da. Schwester Phoebe bahnte sich einen Weg durch die anderen hindurch.
»Das darfst du nicht zulassen!«
»Es ist vielleicht der einzige Weg, Jagang aufzuhalten.«
»Aber das kannst du nicht tun«, meinte Schwester Phoebe, den Tränen nahe. »Das ist der Palast der Propheten. Unser Zuhause.«
»Er wird das Zuhause des Traumwandlers werden, wenn wir ihn für ihn stehen lassen.«
»Aber Verna«, erwiderte Phoebe und packte Verna bei den Armen, »ohne den Bann werden wir altern. Wir werden sterben, Verna. Unsere Jugend wird im Handumdrehen vorüber sein. Wir werden alt werden und sterben, bevor wir Gelegenheit hatten zu leben.«
Verna wischte ihrem Gegenüber mit dem Daumen eine Träne aus den Augen. »Alles ist vergänglich, Phoebe, auch der Palast. Er kann nicht ewig fortbestehen. Er hat seinen Zweck erfüllt, und wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird sich sein Nutzen ins Gegenteil verkehren.«
»Das könnt Ihr nicht tun, Verna! Ich will nicht altern.«
Verna nahm die junge Frau in die Arme. »Phoebe, wir sind Schwestern des Lichts. Wir dienen dem Schöpfer in seinem Werk, um den Menschen in dieser Welt das Leben leichter zu machen. Im Augenblick besteht für uns die einzige Chance, dieses Ziel weiterzuverfolgen, darin, zu werden wie die anderen Kinder des Schöpfers auch — indem wir unter ihnen leben.
Ich verstehe deine Angst, Phoebe, doch vertraue mir — es ist nicht so, wie du befürchtest. Wir empfinden die Zeit unter dem Bann des Palastes anders. Wir spüren nicht, wie die Jahrhunderte langsam verstreichen, so wie es sich die Menschen draußen vorstellen, sondern das schnelle Tempo des Lebens. Wenn man draußen lebt, ist der Unterschied wirklich nicht so groß.
Mit unserem Eid haben wir gelobt zu dienen, nicht einfach nur lange zu leben. Wenn du ein langes und unausgefülltes Leben willst, Phoebe, dann bleibe bei den Schwestern der Finsternis. Wenn du aber ein bedeutungsvolles, nützliches, erfülltes Leben willst, dann begleite uns, die Schwestern des Lichts, in unser neues Leben jenseits dessen, was gewesen ist.«
Phoebe stand schweigend da, während ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen. In der Ferne tobten krachende Feuer, und gelegentlich zerriß eine Explosion die Nacht. Die Rufe der Soldaten im Schlachtgetümmel kamen näher.
Endlich sprach Phoebe. »Ich bin eine Schwester des Lichts. Ich will meine Schwestern begleiten … wohin uns das auch führt. Der Schöpfer wird über uns wachen.«
Verna lächelte und strich Phoebe zärtlich über die Wange. »Sonst noch jemand?« fragte sie, sich unter den anderen Versammelten umsehend. »Hat jemand etwas einzuwenden? Wenn, dann muß er jetzt gehört werden. Kommt nachher nicht zu mir und sagt, ihr hättet keine Gelegenheit gehabt. Die gebe ich euch hiermit.«
Die Schwestern schüttelten allesamt den Kopf. Kurz darauf gaben sie alle zu verstehen, daß sie aufbrechen wollten.
Verna drehte den Ring an ihrem Finger und sah Richard an. »Glaubst du, wir können den Palast zerstören? Den Bann?«
»Ich weiß es nicht. Erinnert Ihr Euch noch, wie Ihr mich damals holen kamt und Kahlan diesen blauen Blitz einsetzte? Konfessoren besitzen ein Element der Subtraktiven Magie jener Zauberer, die ihre Kraft geschaffen haben. Vielleicht läßt sich damit in den Gewölbekellern einiges an Schaden anrichten, wenn ich es nicht schaffe.«
Kahlan legte ihm die Finger auf den Rücken und sagte leise: »Ich glaube nicht, daß ich das kann, Richard. Diese Magie wurde für dich herbeigerufen — zu deinem Schutz. Ich kann sie nicht aus irgendeinem anderen Grund aufrufen.«
»Wir müssen es versuchen. Wenn nichts sonst, können wir wenigstens die Prophezeiungen in Brand setzen. Wenn wir all diese Bücher verbrennen, kann Jagang sie wenigstens nicht mehr gegen uns verwenden.«
Eine kleine Gruppe Frauen und ein halbes Dutzend junger Burschen kamen zum Tor gerannt. »Freunde von Richard«, hörte man dringliches Geflüster. Kevin öffnete das Tor und ließ die atemlose Gruppe hinein.
Verna faßte eine der Frauen am Arm. »Philippa, habt Ihr sie alle gefunden?«
»Ja.« Die große Frau hielt inne und atmete tief durch. »Wir müssen von hier fort. Die Vorhut des Kaisers ist in der Stadt. Die ersten marschieren bereits über die südlichen Brücken. Die Soldaten des Lebensborns verwickeln sie in heftige Kämpfe.«
»Hast du gesehen, was im Hafen vor sich geht?« fragte Verna.
»Ulicia und einige ihrer Schwestern sind dort unten. Diese Frauen nehmen den ganzen Hafen auseinander. Es scheint, als wäre die Unterwelt entfesselt.« Philippa legte ihre zitternden Finger an die Lippen und schloß für einen Moment die Augen. »Sie haben die Männer von der Lady Sefa bei sich.« Die Stimme versagte ihr.
»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was sie diesen armen Kerlen antun.«
Philippa drehte sich um, ließ sich auf die Knie fallen und erbrach sich. Zwei der Schwestern, die mit ihr zusammen zurückgekommen waren, taten es ihr nach. »Gütiger Schöpfer«, brachte Schwester Philippa zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor, »Ihr könnt es Euch nicht vorstellen. Ich werde für den Rest meines Lebens Alpträume haben.«
Richard drehte sich zu den Schreien und Schlachtrufen um. »Verna, Ihr müßt augenblicklich fort von hier. Es gilt, keine Zeit zu verlieren.«
Sie nickte. »Du und Kahlan, ihr könnt nachkommen.«
»Nein. Kahlan und ich müssen unverzüglich nach Aydindril zurück. Ich habe im Augenblick keine Zeit für Erklärungen, aber sie und ich verfügen über die erforderliche Magie, die das ermöglicht. Ich wünschte, ich könnte euch alle mitnehmen, aber das geht nicht. Beeilt euch. Geht nach Norden. Dort steht eine Armee von einhunderttausend Mann, die sich auf der Suche nach Kahlan in südlicher Richtung bewegt. Berichtet General Reibisch, daß die Mutter Konfessor bei mir in Sicherheit ist.«