Richard packte Kahlans Hand. Er stand auf und zwängte sich, sie hinter sich herziehend, durch die Öffnung hindurch. Draußen ließen sie sich keuchend und aneinander geklammert zu Boden fallen.
»Es hat funktioniert«, sagte sie. Nach dem Schrecken kam sie langsam wieder zu Atem. »Ich wußte, daß du in Gefahr warst, deshalb hat meine Magie funktioniert.«
Als die Tür sich das letzte Stück öffnete, sickerte die glatte Fläche aus Licht hinaus auf den Korridor und schwebte auf sie zu.
»Wir müssen von hier verschwinden«, sagte er, als sie sich aufrappelten.
Rückwärts trabend hielten sie ein Auge auf den schleichenden Nebel, der sie verfolgte. Die beiden stöhnten auf, als sie gegen eine unsichtbare Barriere stießen. Richard tappte hilflos auf der Oberfläche herum, konnte aber keinerlei Öffnung finden. Er drehte sich um und sah, daß das Licht sie fast eingeholt hatte.
Voller Wut und ohne sonstigen Ausweg streckte Richard die Hände aus.
Stränge schwarzer Blitze, wellenförmige Leeren im Sein aus Licht und Leben, dem ewigen Tod selbst gleich, schossen vor und entfernten sich drehend und kreisend von seinen ausgestreckten Händen. Das Krachen der Blitze war ohrenbetäubend, als die Subtraktive Magie sich in die Welt hineinfraß. Kahlan zuckte zusammen. Sie schlug sich die Hände auf die Ohren und wich zurück, als sie das sah.
Der leuchtende Dunst schien mitten im Gewölbekeller Feuer zu fangen. Richard spürte einen kräftigen, dumpfen Stoß in seiner Brust und im Felsen unter seinen Füßen.
Die Bücherregale wurden nach hinten geworfen und schleuderten einen Schneesturm loser Blätter in die Luft, die kurz wie tausend Funken eines Freudenfeuers aufflammten. Das Feuer heulte, als sei es lebendig. Er spürte, wie die schwarzen Blitze aus seinem Inneren heraus mit einer Wucht und Wildheit explodierten, die jede Vorstellungskraft sprengte, wie sie in seinem Körper brannten und sich in die Gewölbe schlängelten.
Kahlan zerrte an seinen Armen. »Richard! Richard! Wir müssen fliehen! Hör auf mich! Lauf!«
Kahlans Stimme schien aus großer Ferne zu ihm zu kommen. Urplötzlich erloschen die schwarzen Stränge Subtraktiver Magie. Die Welt stürzte zurück, füllte im Nu die Leere seines Bewußtseins, und er fühlte sich wieder lebendig. Und war entsetzt.
Die unsichtbare Barriere, die sie am Entkommen gehindert hatte, war verschwunden. Richard packte Kahlans Hand und rannte los. Hinter ihnen überschlug sich jaulend der Kern aus Licht und erstrahlte mit schriller werdendem Geräusch immer heller.
Gütige Seelen, dachte er, was habe ich bloß angerichtet?
Sie rannten durch die steinernen Korridore, sprangen Stufen hinauf und liefen durch lange Säle, die von Stockwerk zu Stockwerk reicher geschmückt waren — getäfelt, mit Teppichen ausgelegt, mit Lampen, die ihnen anstelle von Fackeln den Weg leuchteten. Die Schatten vor ihnen wurden immer länger, doch das waren nicht die Lampen — es war das lebendige Licht, das sie verfolgte.
Sie platzten durch eine Tür und hinaus in eine Nacht voller Kampfgetümmel. Soldaten in karminroten Capes kämpften gegen Männer mit nackten Armen, die Richard nie zuvor gesehen hatte. Einige trugen Bärte, und manch ein Kopf war glattrasiert, aber alle hatten einen Ring im linken Nasenflügel. In ihren fremdartigen Ledergürteln und -gurten, die teils mit Dornen besetzt waren, in ihren Schichten aus Fell und Leder, wirkten sie wie primitive Wilde, ein Eindruck, den ihre Art zu kämpfen noch unterstrich: Hinter einem schauerlichen Grinsen sah man fest zusammengebissene Zähne, während sie, Schwerter, Äxte und Morgensterne schwenkend, mitten unter ihre Widersacher droschen, Schläge abwehrten und unter Einsatz kleiner runder Schilde, aus deren Mitte lange Lanzen ragten, vorandrängten.
Richard hatte diese Männer zwar noch nie zuvor gesehen, aber er wußte: Dies mußte die Imperiale Ordnung sein.
Ohne den Schritt zu verlangsamen, fädelte Richard sich, Kahlan hinter sich herziehend, durch die Lücken der Schlacht hindurch und rannte auf eine der Brücken zu. Als einer der Soldaten der Imperialen Ordnung einen Ausfallschritt machte und ihn mit einem Stiefeltritt aufzuhalten versuchte, hakte Richard einen Arm unter das Bein des Mannes und schleuderte ihn zur Seite, ohne seinen ungestümen Vorwärtsdrang merklich zu bremsen. Als einer der Soldaten der Imperialen Ordnung sich auf ihn stürzte, rammte Richard einen Ellenbogen in das Gesicht des Mannes und stieß ihn zur Seite.
Mitten auf der Ostbrücke, die hinaus in jene Gegend führte, in der der Hagenwald lag, war ein halbes Dutzend Soldaten des Lebensborns mit einer ähnlich großen Zahl aus der Imperialen Ordnung in ein Handgemenge verwickelt. Als ihm ein Schwert entgegenkam, duckte Richard sich darunter hinweg und stieß den Mann mit der Schulter über das Geländer in den Fluß, dann warf er sich durch die dadurch entstandene Lücke.
Von hinten, durch den Lärm der Schlacht, durch das Klirren der Schwerter und das Gebrüll der Soldaten, hörte er das Heulen des Lichts. Er rannte. Scheinbar hatten seine Beine sich selbst zur Flucht entschlossen und liefen von alleine. Und das, wovor sie flohen, war schlimmer als Schwerter oder Messer. Kahlan brauchte keine Hilfe, um mit ihm Schritt zu halten. Sie war dicht an seiner Seite.
Sie hatten knapp das andere Flußufer erreicht und waren noch nicht weit in die Stadt vorgedrungen, als die Nacht plötzlich einem grellen Gleißen wich, das tintenschwarze, vom Palast fortzeigende Schatten warf. Die beiden gingen hinter der verputzten Mauer einer verrammelten Werkstatt in Deckung, hockten sich nieder und rangen keuchend nach Atem. Richard riskierte einen Blick um die Häuserecke und sah blendend grelles Licht, das aus allen Fenstern des Palastes erstrahlte, selbst aus denen hoch droben in den Türmen. Licht schien aus allen Fugen des Gesteins hervorzuquellen.
»Kannst du noch ein Stückchen weiterrennen?« fragte er japsend.
»Ich wollte gar nicht stehenbleiben«, meinte sie.
Richard kannte sich in der Stadt aus. Er führte Kahlan zwischen verwirrten, verängstigten, jammernden Menschenmengen hindurch, durch enge Straßen und weite Alleen, bis sie den Stadtrand von Tanimura erreichten.
Sie hatten den Hang des Tales, in dem die Stadt lag, zur Hälfte hinter sich, als er einen mächtigen Schlag im Boden spürte, der ihm fast die Füße unter dem Körper weggerissen hätte. Ohne sich umzusehen, schlang Richard einen Arm um Kahlan und warf sich zusammen mit ihr in eine flache Vertiefung im Granit. Schwitzend und erschöpft hielten sie sich aneinander fest, während die Erde bebte.
Sie steckten gerade noch rechtzeitig die Köpfe hinaus, um zu sehen, wie das Licht die mächtigen Türme und Steinmauern des Palastes der Propheten zerfetzte wie ein Wirbelsturm Papier. Die gesamte Insel Drahle schien auseinanderzubrechen. Baumteile und riesige Rasensoden stiegen zusammen mit Gesteinsbrocken jeder Größe in die Luft. Ein blendend heller Blitz trieb eine Kuppel dunkler Trümmer vor sich her. Der Fluß wurde seines Wassers und seiner Brücken beraubt.
Die Wand aus Licht weitete sich mit krachendem Getöse aus. Irgendwie hielt die Stadt jenseits der Insel dieser Raserei stand.
Oben leuchtete der Himmel, als loderte sein Gewölbe aus Anteilnahme mit dem blendenden Kern darunter auf. Der äußere Rand der glänzenden Glocke aus Licht stürzte kaskadenartig Meilen von der Stadt entfernt zu Boden. Richard kannte diese Grenze noch, es war der äußere Schild, der ihn gefangenhielt, als er den Rada’Han getragen hatte.
»Der Bringer des Todes, fürwahr«, sagte Kahlan leise, während sie das Geschehen, von Ehrfurcht ergriffen, verfolgte. »Ich hatte keine Ahnung, daß du zu so etwas imstande bist.«
»Ich auch nicht«, antwortete Richard kaum vernehmbar.
Ein Windstoß fegte tosend den Hang hinauf und zerrte am Gras. Sie zogen die Köpfe ein, als eine Wand aus aufgewirbeltem Sand und Erde über sie hinwegraste.
Als sich alles beruhigt hatte, richteten sie sich zögernd wieder auf. Die Nacht war zurückgekehrt. Richard konnte in der plötzlichen Dunkelheit unten nicht viel erkennen, doch eins wußte er — der Palast der Propheten existierte nicht mehr.