»Aber es ist doch gar nicht dunkel«, rief ich aus. »Wie kann es denn Nacht sein?«
Lächelnd entgegnete er: »Du vergißt, daß wir uns weit unten befinden. Das Sonnenlicht dringt niemals bis hierhin vor. Es gibt keine Monde und Sterne, die sich auf der Oberfläche von Omean widerspiegeln. Das phosphoreszierende Licht, das du jetzt in diesem riesigen, unterirdische Gewölbe siehst, kommt aus den Felsen, die seine Kuppel bilden. Das Licht scheint immer über Omean, so wie die Wogen des Meeres immer gleich sind, so, wie du sie jetzt siehst – sie heben und senken sich ständig trotz Windstille. In einer bestimmten Stunde der Welt über uns legen sich die Menschen zur Ruhe, die hier ihren Pflichten nachgehen, doch das Licht bleibt immer dasselbe.«
»Das wird uns die Flucht erschweren«, sagte ich. Dann zuckte ich die Schultern, denn ist es nicht reizvoller, sich einer komplizierten Angelegenheit zu stellen?
»Laß uns heute nacht darüber schlafen. Wenn wir erwachen, fällt uns vielleicht etwas ein«, sagte Xodar.
So legten wir uns auf dem harten Stein unseres Gefängnisses nieder und schliefen den Schlaf müder Männer.
11. Die Hölle bricht los
Früh am nächsten Morgen machten Xodar und ich uns wieder an unsere Fluchtpläne. Zuerst ließ ich ihn auf dem Steinfußboden unserer Gefängniszelle eine Karte von den Südregionen zeichnen, so genau, wie es uns mit den uns gegebenen Mitteln möglich war – mit einer Schnalle von meinem Lederzeug und der scharfen Kante des zauberhaften Edelsteines, den ich Sator Throg abgenommen hatte.
Mit ihrer Hilfe bestimmte ich grob, in welcher Richtung Helium lag und wie weit es von der Erdöffnung entfernt war, die zu Omean führte.
Dann hieß ich ihn Omean aufzeichnen, sowie die genaue Position von Shador und der Gewölbeöffnung, durch die man nach draußen gelangte.
Ich studierte diese Karten ausgiebig, bis sie sich meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatten. Von Xodar erfuhr ich, welche Pflichten die Wachen auf Shador erfüllen mußten und welche Gepflogenheiten herrschten. Offensichtlich hatte während der Schlafenszeit nur ein Mann Dienst. Seine Runde führte ihn in etwa einhundert Fuß Entfernung um das Gefängnisgebäude herum.
Die Wachposten bewegten sich nach Xodars Aussage mit schneckenartiger Geschwindigkeit, sie brauchten für eine einzige Runde etwa zehn Minuten. Das hieß, daß praktisch jede Seite des Gefängnisses für fünf Minuten unbewacht war, solange der Posten gemächlich auf der anderen Seite entlangschritt.
»All das, wonach du fragst, wird für uns sehr wichtig sein, sobald wir draußen sind. Doch keine deiner Fragen steht in irgendeinem Zusammenhang mit jenen Dingen, die für uns am dringendsten und wichtigsten sind.«
»Wir kommen hier ohne Probleme heraus«, entgegnete ich lachend. »Überlaß das nur mir.«
»Wann geht es los?« fragte er.
»In der ersten Nacht, in der ein kleines Schiff in Ufernähe von Shador festmacht«, entgegnete ich.
»Doch wie erfährst du, ob ein Schiff bei Shador vor Anker geht? Die Fenster sind zu weit oben für uns.«
»Ach nein, Freund Xodar, sieh!«
Mit einem Satz sprang ich zu den Stangen des uns gegenüberliegenden Fensters empor und warf einen Blick nach draußen.
Einige kleine Schiffe und zwei große Kreuzer lagen in einhundert Yard Entfernung vor Shador.
»Heute nacht«, dachte ich und wollte das schon Xodar gegenüber verlauten lassen, als sich völlig unerwartet die Gefängnistür öffnete und ein Wachposten eintrat.
Wenn er mich jetzt sah, dann hätten wir kaum noch Chancen auf ein Entkommen. Mir war klar, daß sie mich in Eisen legen würden, hätten sie auch nur die geringste Ahnung von den wundervollen Fähigkeiten, die mir meine irdischen Muskeln auf dem Mars verliehen.
Der Mann war eingetreten, stand mit dem Rücken zu mir und blickte zur Zellenmitte. Fünf Fuß über mir endete die Trennwand zur nächsten Zelle.
Es war die einzige Möglichkeit, der Entdeckung zu entgehen. Wenn sich der Mann umwandte, war ich verloren. Auch hätte ich mich nicht fallen lassen können, denn er stand so ungünstig, daß ich ihn beim Hinunterkommen gestreift hätte.
»Wo ist der weiße Mann?« schrie er Xodar an. »Issus befiehlt ihn zu sich.« Er wollte sich schon umdrehen und nachsehen, ob ich mich in einem anderen Teil der Zelle aufhielt.
Ich zog mich am Eisengitter des Fensters hoch, bis ich auf dem Sims stand, ließ los und machte einen Satz in Richtung der Trennwand.
»Was war das?« bellte der Schwarze mit tiefer Stimme, als mein Metall dabei die Steinwand streifte. Dann ließ ich mich lautlos in der dahinterliegenden Zelle zu Boden fallen.
»Wo ist der weiße Sklave?« brüllte der Wachposten erneut.
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Xodar. »Er war eben noch hier, bis du eingetreten bist. Ich bin nicht sein Wachposten – such ihn selbst.«
Der Schwarze brummte etwas Unverständliches, dann hörte ich, wie er eine der Türen zu den Zellen gegenüber öffnete. Ich lauschte aufmerksam, bis ich die Tür hinter ihm zufallen hörte. Dann sprang ich wieder auf die Zwischenwand und setzte in meiner eigenen Zelle neben dem erstaunten Xodar auf.
»Verstehst du nun, wie wir entkommen werden?« flüsterte ich.
»Ich sehe, wie es dir gelingen könnte«, entgegnete er.
»Doch mir ist nach wie vor schleierhaft, wie ich diese Wände überwinden soll. Keinesfalls kann ich darüberspringen.«
Wir hörten, wie der Wachposten von Zelle zu Zelle schritt. Schließlich, als er seine Runde gemacht hatte, langte er wieder bei uns an. Als er mich sah, machte er Stielaugen.
»Bei der Schale meines ersten Ahnen!« donnerte er. »Wo hast du dich versteckt?«
»Ich bin hier, seit du mich gestern eingesperrt hast«, entgegnete ich. »Ich war auch schon bei deinem Eintreten in diesem Raum. Du solltest mal deine Augen überprüfen lassen.«
Mit wütender und gleichzeitig erleichterter Miene blickte er mich an.
»Komm«, sagte er, »Issus befiehlt dich zu sich.«
Er geleitete mich aus der Zelle, in der Xodar nun allein zurückblieb. Draußen warteten einige andere Wachposten. Bei ihnen befand sich der rote Marsjunge, der die andere Zelle auf Shador bewohnte.
Die Reise zum Tempel von Issus verlief ebenso wie am Vortag. Die Wachen hielten mich und den roten Jungen voneinander fern, so daß wir keine Gelegenheit hatten, die am Vorabend unterbrochene Unterhaltung fortzusetzen.
Das Gesicht des Jungen ließ mir keine Ruhe. Wo hatte ich ihn schon einmal gesehen? In jedem seiner Züge, seiner Haltung, seiner Art zu sprechen und seiner Gestik lag eine seltsame Vertrautheit. Ich hätte schwören können, daß ich ihn kannte, und dennoch wußte ich, daß ich ihn nie zuvor gesehen hatte.
Als wir in den Gärten von Issus ankamen, führte man uns diesmal nicht in Richtung des Tempels, sondern von ihm fort. Der Weg schlängelte sich durch die zauberhaften Parks in Richtung eines riesigen Walls, der einhundert Fuß in die Höhe ragte.
Durch ein massives Portal gelangte man zu einem kleinen Flachland, umgeben von denselben prächtigen Wäldern, wie ich sie am Fuße der goldenen Felsen gesehen hatte.
Unzählige Schwarze waren in derselben Richtung unterwegs, in der uns die Wachposten führten. Bei ihnen befanden sich auch meine alten Freunde: Die Pflanzenmenschen und die großen weißen Affen.
Die wilden Tiere bewegten sich mit der Menge als seien sie Schoßhündchen. Gerieten sie einem Schwarzen vor die Füße, stieß er sie unsanft beiseite oder versetzte ihnen mit dem flachen Teil des Schwertes einen Schlag, und eingeschüchtert krochen die Tiere weit weg.
Bald erreichten wir unser Ziel. Es war ein großes Amphitheater auf der anderen Seite des Feldes, etwa eine halbe Meile von den Gartenmauern entfernt.
Durch ein massives Rundtor strömten die Schwarzen zu ihren Plätzen, während unsere Wachposten uns zu einem kleineren Eingang am hinteren Teil des Bauwerkes brachten.