Er hatte in leisem Flüsterton gesprochen, offenbar aus Furcht, daß man uns sogar hier noch belauschte, und so antwortete ich ebenso leise: »Bring mich zurück nach Shador, mein Freund. Xodar, der Schwarze ist noch dort. Wir wollten gemeinsam fliehen – ich kann ihn nicht im Stich lassen.«
»Nein, man kann einen Freund nicht im Stich lassen; dann heißt es schon lieber die Gefangenschaft in Kauf nehmen«, entgegnete der Junge.
Er begann, den Boden der dunklen Kammer nach der Luke abzutasten, durch die man zu den darunter gelegenen Gängen gelangte. Schließlich rief er mich durch ein leises ›S-s-st‹ zu sich. Ich kroch seiner Stimme hinterher. Er kniete am Rand einer Öffnung.
»Hier geht es ungefähr zehn Fuß nach unten. Laß dich an den Händen hinunter, dann landest du unversehrt auf einem glatten, weichen Sandboden.«
Lautlos ließ ich mich von der finsteren Zelle über mir in die Dunkelheit unter mir hinab. Es war so düster, daß man die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Ich kann mich nicht entsinnen, je zuvor eine solche Finsternis erlebt zu haben wie in den Katakomben von Issus.
Einen Augenblick hing ich in der Luft. Das merkwürdige Gefühl, das man bei einem derartigen Unterfangen bekommt, ist ziemlich schwer zu beschreiben. Wenn sich unter den Füßen nur leere Luft befindet und man aufgrund der Dunkelheit den Boden nicht erkennen kann, dann ergreift einen so etwas wie Panik bei dem Gedanken, loszulassen und den Sprung in die unbekannte Tiefe zu wagen.
Obwohl der Junge mir mitgeteilt hatte, daß es nur zehn Fuß bis nach unten waren, schauderte mir ebenso, als hinge ich über einem unendlichen Abgrund. Dann ließ ich los und landete vier Fuß weiter unten auf einem weichen Sandkissen.
Der Junge folgte mir.
»Heb mich auf deine Schultern, ich werde die Klappe zurückschieben«, sagte er.
Gesagt – getan. Nun nahm er meine Hand und ging sehr langsam voran, tastete unsere Umgebung ab und blieb häufig stehen, um sich zu vergewissern, daß wir nicht aus Versehen in einen falschen Gang gerieten.
Schließlich schlugen wir einen steil abfallenden Weg ein.
»Bald wird es heller. In den unteren Schichten gibt es dieselben phosphoreszierenden Gesteinsbrocken wie in Omean«, sagte er.
Niemals werde ich den Marsch durch die Katakomben von Issus vergessen. Auch wenn er ohne Zwischenfälle verlief, war er für mich abenteuerlich und spannend, ich glaube, größtenteils wegen der unbekannten Geschichte dieser lang vergessenen Gänge. Jene Dinge, die ich aufgrund der pechschwarzen Finsternis nicht zu sehen bekam, können nicht halb so schön gewesen sein wie das, was mir meine Phantasie zeigte, in der die einstigen Bewohner dieser sterbenden Welt wieder auferstanden. Viele Rätsel waren mit ihnen verbunden. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Mühen, Intrigen und Grausamkeiten, unter denen sie sich auf das letzte Gefecht mit den heranstürmenden Horden der ausgetrockneten Meere vorbereiteten, von denen sie schließlich Schritt für Schritt in den entlegensten Teil der Welt zurückgetrieben wurden, wo sie sich hinter einer undurchdringlichen Mauer von Aberglauben verschanzten.
Neben den grünen Marsmenschen hatte es auf Barsoom drei große Völkergruppen gegeben: Schwarze, weiße und gelbe Menschen. Als der Wasservorrat des Planeten zur Neige ging und die Meere zusehends austrocketen, schwanden auch alle anderen Ressourcen, so daß das Leben auf dem Planeten zu einem ständigen Kampf ums Überleben wurde.
Die verschiedenen Rassen hatten sich über Jahrhunderte hinweg bekriegt, und die drei höherentwickelten Völker hätten die grünen Wilden der Meere mit Leichtigkeit besiegt, doch nun, da sie aufgrund der zurückweichenden Gewässer dazu gezwungen waren, die mit Festungswällen umgebenen Städte für immer zu verlassen und ein mehr oder weniger nomadenartiges Leben zu führen, in dessen Verlaufe sie sich in mehrere kleinere Gemeinschaften teilten, fielen sie bald den wilden Horden der grünen Marsmenschen zum Opfer. Das Ergebnis war eine teilweise Verschmelzung der schwarzen, weißen und gelben Menschen, den Vorfahren des edlen Volkes der roten Menschen.
Ich war immer der Annahme gewesen, daß alle Spuren der ursprünglichen Rassen von der Marsoberfläche verschwunden waren, doch hatte ich in den vergangenen vier Tagen sowohl die weißen als auch die schwarzen Menschen in großer Anzahl kennengelernt. Vielleicht lebten dann auch in irgendeinem entlegenen Landstrich des Planeten auch noch Angehörige der uralten Rasse der gelben Menschen?
Meinen Träumereien wurde von einem leisen Ausruf des Jungen ein Ende gesetzt.
»Endlich, der helle Weg«, rief er. Als ich aufblickte, sah ich weit vor uns ein schwaches Strahlen.
Beim Näherkommen wurde das Licht stärker, bis wir uns schließlich in gut beleuchteten Gängen wiederfanden. Von da an kamen wir schnell voran und standen plötzlich am Ende eines Ganges vor dem Wasserbecken mit dem U-Boot.
Das Fahrzeug befand sich am Liegeplatz, die Einstiegsluke geöffnet. Der Junge legte den Finger an die Lippen, tippte bedeutungsvoll an sein Schwert und kroch lautlos auf das Gefährt zu. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen.
Leise kletterten wir auf das menschenleere Deck und krochen auf allen vieren in Richtung der Luke. Ein kurzer Blick nach unten zeigte uns, daß weit und breit kein Wachposten zu sehen war. Schnell und lautlos wie Katzen ließen wir uns in den Hauptraum des Unterseebootes fallen. Selbst hier befand sich keine Menschenseele. Schnell schlossen und sicherten wir die Luke.
Der Junge trat in den Steuerraum, drückte auf einen Knopf, und das Boot tauchte senkrecht durch das strudelnde Wasser in Richtung Grund. Auch dann ließen sich keine eiligen Schritte vernehmen, wie wir es eigentlich erwartet hatten. Während der Junge zurückblieb, um das Boot zu steuern, schlich ich auf der Suche nach Mitgliedern der Besatzung von Kabine zu Kabine. Ohne Ergebnis. Das Boot war menschenleer. Ein solches Glück schien fast unglaublich.
Als ich in den Steuerraum zurückkehrte, um meinem Gefährten die gute Neuigkeit mitzuteilen, reichte er mir ein Blatt Papier mit den Worten: »Das erklärt die Abwesenheit der Mannschaft.«
Es war eine Funknachricht an den Kapitän des Unterseebootes:
›Die Sklaven haben sich gegen uns erhoben. Kommt mit allen Männern, die ihr habt und die ihr unterwegs sammeln könnt. Es ist zu spät, um von Omean Hilfe anzufordern. Sie richten im Amphitheater ein Massaker an. Issus ist in Gefahr! Beeilt euch!‹
»Zithad ist Dator der Garden von Issus«, erklärte der Junge. »Wir haben ihnen einen tüchtigen Schrecken eingejagt – den werden sie nicht so schnell vergessen.«
»Hoffen wir, daß das der Anfang vom Ende von Issus ist«, sagte ich.
»Das weiß nur unser erster Ahne«, entgegnete er.
Unbehelligt erreichten wir die Anlegestelle in Omean. Hier erwogen wir, ob es ratsam war, das Gefährt nach unserem Verlassen zu versenken. Schließlich entschieden wir uns jedoch dagegen, da dies unserem Entkommen auch nicht weiter nützen würde. Falls man uns sah, würden genügend Schwarze aus Omean unsere Flucht zu vereiteln suchen, und es spielte dann keine weitere Rolle, wieviel dann noch aus den Tempeln und Gärten von Issus hinzukommen würden.
Wir befanden uns nun in der Verlegenheit, an den Wachposten vorbei zu müssen, die die Insel, auf der sich die Anlegestelle befand, überwachten. Schließlich fiel mir etwas ein.
»Wie sind Name und Titel des diensthabenden Offiziers dieser Wachen?« fragte ich den Jungen.
»Ein Mann namens Torith hatte Dienst, als wir an diesem Morgen hier eintrafen«, entgegnete er.
»Gut. Und wie heißt der Kapitän des Unterseebootes?« »Yersted.«
Ich fand eine leere Depesche in der Kajüte und schrieb darauf folgenden Befehclass="underline"
›Dator Torith: Bring diese beiden Sklaven sofort nach Shador zurück!
»Damit wird der Rückweg einfacher«, sagte ich lächelnd, als ich dem Jungen den gefälschten Befehl überreichte. »Komm, wir werden sehen, wie es funktioniert.«