Als wir dem Kreuzer näherkamen, tat ich, als wolle ich über ihm hinweggehen, damit er, in der Absicht, mich weiter nach oben zu drängen, einen steileren Winkel einschlug. Es gelang. Als wir den Kreuzer fast vor uns hatten, schrie ich meinen Begleitern zu, sich festzuhalten, schlug Höchstgeschwindigkeit ein, richtete die Nase wieder nach unten, bis wir uns erneut in der Horizontalen befanden und in halsbrecherischem Tempo auf den Kiel des Kreuzers zusteuerten.
Dem Kapitän wird mein Vorhaben in diesem Moment klargeworden sein, doch es war zu spät. Kurz vor dem Aufprall zog ich die Nase nach oben, und mit einem splitternden Ruck kam es zur Kollision. Was ich gehofft hatte, trat nun ein. Der Kreuzer, der bereits einen gefährlichen Winkel eingenommen hatte, wurde durch den Aufprall meines kleineren Fahrzeuges rückwärts um die eigene Achse geschleudert. Zappelnd und schreiend stürzten die Mannschaftsmitglieder ins tiefe Wasser, während der Kreuzer, dessen Propeller noch immer wie irrsinnig kreiselten, ihnen kopfüber binnen kürzester Zeit auf den Meeresgrund von Omean folgte.
Durch den Zusammenprall zerbrach unser stählerner Bug, und trotz all unserer Bemühungen fegte es uns beinahe vom Deck. Schließlich landeten wir als wild um sich greifender Haufen am Heck unseres Fliegers, wo es Xodar und mir gelang, an der Reling Halt zu finden. Der Junge wäre jedoch über Bord gegangen, hätte ich ihn nicht glücklicherweise im letzten Moment am Fußgelenk zu fassen bekommen.
Ungesteuert tanzte unser Schiff wild umher und kam den Felsen über uns immer näher. Jedoch befand ich mich nach einer Schrecksekunde, als die Felsen keine fünfzig Fuß mehr von uns entfernt waren, wieder an den Steuerhebeln, richtete die Nase des Schiffes ein weiteres Mal in die Horizontale und steuerte erneut in Richtung der schwarzen Mündung des Schachtes.
Durch den Zusammenstoß hatte sich unser Vorsprung verkleinert, und Hunderte der schnellen Aufklärer waren uns schon sehr nahe gekommen. Xodar hatte mir gesagt, daß, wenn wir uns während des Aufstiegs nur die Auftriebsstrahlen einsetzen würden, unsere Feinde die größten Chancen hatten uns einzuholen, da unsere Propeller dann stillstanden und unsere Verfolger eine höhere Geschwindigkeit als wir zu erreichen vermochten. Die schnelleren Flieger werden selten mit großen Speichern für Auftriebsstrahlen ausgerüstet, weil deren zusätzliches Gewicht die Geschwindigkeit beeinträchtigt.
Viele Boote befanden sich in unserer Nähe, so war es fast sicher, daß wir bald eingeholt und kurz darauf gefangen genommen oder getötet wurden.
Für mich gibt es immer einen Weg, um auf die andere Seite einer Barriere zu gelangen. Kommt man nicht darüber, darunter hindurch oder daran vorbei, besteht nur eine Möglichkeit: Man muß mitten hindurch. Ich konnte mich der Tatsache nicht entziehen, daß viele der Boote wegen ihres größeren Auftriebes schneller aufzusteigen vermochten als wir. Nichtsdestoweniger war ich jedoch entschlossen, die Außenwelt weit vor ihnen zu erreichen oder bei dem Versuch auf eine von mir gewählte Art zugrundezugehen.
»Zurück!« rief Xodar hinter mir. »Um der Liebe unseres ersten Ahnen willen, zurück. Wir sind am Schacht!«
»Festhalten!« rief ich als Antwort. »Greif dir den Jungen, und haltet euch fest – wir gehen schnurstracks den Schacht nach oben.«
Die Worte waren kaum ausgesprochen, als wir unter die pechschwarze Öffnung fegten. Ich richtete die Nase des Fahrzeugs scharf nach oben, stellte die Geschwindigkeit auf die höchste Stufe, hielt mich mit der einen Hand an einer Deckstütze fest, griff mit der anderen ans Steuerrad, klammerte mich verbissen daran und schrieb meine Seele bereits ihrem Schöpfer zu.
Ich vernahm einen kurzen und überraschten Ausruf von Xodar, daraufhin grimmiges Gelächter. Auch der Junge lachte und machte eine Bemerkung, jedoch drang sie nicht bis zu mir, da man bei dem irrsinnigen Tempo sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.
In der Hoffnung, Sterne zu erblicken, nach denen ich unseren Kurs bestimmen und das Fahrzeug, das uns in rasendem Tempo mitten durch den Schacht trug, ausrichten konnte, sah ich über mich. Streiften wir bei dieser Geschwindigkeit eine Seite, so hätte das zweifellos unseren sofortigen Tod zur Folge. Doch kein Stern zeigte sich – vor uns herrschte eine undurchdringliche Finsternis.
Dann schaute ich unter mich und sah einen zusehends kleiner werdenden Lichtkreis: Der Eingang zu dem durch phosphoreszierende Strahlen erhellten Gewölbe über Omean.
Daran orientierte ich mich, versuchte, das Lichtpünktchen direkt unter mir zu halten. Bestenfalls war es nur ein dünner Faden, der uns vor dem Untergang bewahrte, und ich glaube, in dieser Nacht mehr durch Intuition und blindes Vertrauen geleitet worden zu sein als durch Können und Verstand.
Der Aufstieg im Schacht war von kurzer Dauer. Wahrscheinlich rettete uns gerade das enorme Tempo, und offensichtlich hatten wir die richtige Richtung eingeschlagen, denn wir waren so schnell wieder draußen, daß wir keine Zeit mehr fanden, den Kurs zu ändern. Omean liegt vielleicht zwei Meilen unter der Marsoberfläche. Wir mußten uns mit einer Geschwindigkeit von ungefähr zweihundert Meilen in der Stunde bewegt haben – Marsflugzeuge sind schnell – so daß wir allerhöchstens nicht länger als vierzig Sekunden im Schacht zugebracht haben mußten.
Erst einige Sekunden nach Verlassen des Schachtes wurde mir bewußt, das Unmögliche vollbracht zu haben. Um uns herum herrschte pechschwarze Finsternis. Weder Mond noch Sterne waren zu sehen. Nie zuvor hatte ich so etwas auf dem Mars erlebt, und einen Augenblick lang war ich verwirrt. Dann fiel mir es mir wie Schuppen von den Augen. Am Südpol herrschte Sommer. Die Eisdecke schmolz, und Wolken, jene Wettererscheinungen, die in den meisten Gebieten vom Mars unbekannt sind, verdeckten in diesem Teil des Planeten das Himmelslicht.
Das war in der Tat Glück für uns, und ich verstand schnell, welche Vorteile wir Flüchtlinge daraus ziehen konnten. Ich hielt die Nase des Flugzeuges im steilen Winkel nach oben und raste auf den undurchdringlichen Vorhang zu, in den die Natur diese sterbende Welt gehüllt hatte, um uns vor unseren feindlichen Verfolgern zu verbergen.
Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, drangen wir in den kalten, feuchten Nebel ein und tauchten einen Augenblick später in das herrliche Licht der beiden Monde und einer Million Sterne. Ich brachte das Flugzeug in die Horizontale und schlug die Nordrichtung ein. Unsere Feinde waren eine gute halbe Stunde hinter uns, ohne eine Ahnung von unserem Verbleib zu haben. Wir hatten das Wunder vollbracht und waren unversehrt tausend Gefahren entronnen – wir waren aus dem Land der Erstgeborenen geflohen. Keinem anderen Gefangenen war dies in all den Jahrhunderten von Barsoom gelungen, und nun, wenn ich daran zurückdachte, schien es überhaupt nicht so schwierig gewesen zu sein.
Über die Schulter hinweg tat ich meine Ansicht Xodar kund.
»Es ist ein Wunder, und dennoch hätte es kein anderer als John Carter vollbringen können«, entgegnete er.
Als der Junge diese Worte vernahm, sprang er auf und rief: »John Carter! John Carter! Wie denn, Mann, John Carter, der Prinz von Helium, ist seit Jahren tot. Ich bin sein Sohn.«
14. Die Augen im Dunkeln
Mein Sohn! Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Langsam erhob ich mich und trat auf den hübschen Jungen zu. Jetzt, da ich ihn mir genauer anschaute, wurde mir klar, warum mich sein Gesicht und seine Persönlichkeit so sehr fasziniert hatten. In den regelmäßigen Gesichtszügen lag viel von der unbeschreiblichen Schönheit seiner Mutter, doch war es eine ausgesprochen männliche Schönheit, und sowohl die grauen Augen als auch ihren Ausdruck hatte er von mir.
Der Junge stand vor mir, gleichzeitig Hoffnung und Zweifel in seinem Blick.
»Erzähl mir von deiner Mutter«, sagte ich. »Erzähl mir alles, was in den Jahren geschehen ist, in denen mich ein erbarmungsloses Schicksal ihrer teuren Gesellschaft beraubt hat.«
Mit einem Freudenschrei sprang er auf mich zu und fiel mir um den Hals. Einen kurzen Moment, als ich meinen Jungen in den Armen hielt, stiegen Tränen in meine Augen, und ich hätte wie ein sentimentaler Narr losgeschluchzt – doch darüber empfinde ich weder Bedauern noch Scham. Ein langes Leben hat mich gelehrt, daß ein Mann, wenn es Frauen und Kinder betrifft, Schwäche zeigen und dennoch auf den ernsteren Pfaden des Lebens alles andere als ein Schwächling sein kann.