Zu meiner rechten saß Kantos Kan, während rechts neben Dejah Thoris’ leerem Platz Tars Tarkas auf einem riesigen Stuhl vor einem erhöhten Teil der Tafel saß, den ich vor Jahren entsprechend den Erfordernissen seiner riesigen Ausmaße hatte entwerfen lassen.
Auf dem Mars befindet sich der Ehrenplatz an einer Tafel immer zur Rechten der Gastgeberin, und diesen Platz hielt Dejah Thoris stets für den großen Thark reserviert, wenn er zu bestimmten Anlässen in Helium weilte.
Hor Vastus saß auf dem Ehrenplatz auf Carthoris’ Tafelseite. Man unterhielt sich ein wenig über allgemeine Dinge. Es war eine stille und betrübte Gesellschaft. Ein jeder hing noch sehr in Gedanken Dejah Thoris nach, hinzu kamen die Sorge um Tardos Mors und Mors Kajak, sowohl Zweifel und Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft von Helium, sollte es sich herausstellen, daß es für immer seines großen Jeddaks beraubt war.
Plötzlich vernahmen wir in der Ferne Geschrei, es klang, als ob mehrere Menschen zugleich die Stimme erhoben, doch ob aus Ärger oder Freude konnte man nicht feststellen. Der Aufruhr kam immer näher. Ein Sklave kam in den Essensaal gestürzt und rief, eine große Menschenmenge ströme durch die Palasttore. Ein zweiter folgte ihm auf den Fersen, abwechselnd lachend, dann wieder schreiend, als habe er den Verstand verloren.
»Dejah Thoris ist gefunden worden! Eine Nachricht von Dejah Thoris!« rief er.
Ich wartete nicht weiter. Die großen Fenster des Speisesaales blickten auf die Promenade zum Hauptportal – sie befanden sich auf der anderen Seite des Saales, dazwischen war nur der Tisch. Ich verschwendete keine Zeit damit, die Tafel zu umgehen – ein einziger Satz beförderte mich über Tisch und Gäste hinweg auf den Balkon. Dreißig Fuß weiter unten lag der scharlachfarbene Rasen. Hinten hatten sich viele Menschen um ein großes Thoat geschart, das einen Reiter in Richtung Palast trug. Ich sprang hinunter auf den Rasen und stürmte auf die Gruppe zu.
Beim Näherkommen erkannte ich in der Gestalt auf dem Thoat Sola.
»Wo ist die Prinzessin von Helium?« fragte ich.
Das grüne Mädchen glitt von seinem riesigen Reittier und kam auf mich zugerannt.
»O mein Prinz, mein Prinz!« rief sie. »Sie ist für immer verloren. In diesem Moment kann sie eine Gefangene auf dem ersten Mond sein. Die schwarzen Piraten von Barsoom haben sie geraubt.«
18. Sola erzählt
Wieder im Palast, zog ich Sola zum Speisesaal, und nachdem sie ihren Vater in der Art und Weise der grünen Menschen begrüßt hatte, begann sie von der Pilgerfahrt und Gefangennahme von Dejah Thoris zu berichten.
»Vor sieben Tagen ertappte ich Dejah Thoris nach ihrer Audienz mit Zat Arrras mitten in der Nacht dabei, wie sie sich aus dem Palast stehlen wollte. Obwohl ich nicht wußte, wie ihr Gespräch mit Zat Arrras verlaufen war, ahnte ich, daß etwas vorgefallen war, das ihr große seelische Pein verschaffte, und als ich sie erblickte, mußte mir nicht gesagt werden, was sie vorhatte. Ich weckte schnell ein Dutzend ihrer treuesten Wachposten und legte ihnen meine Befürchtungen dar. Einmütig erklärten sich alle bereit, die geliebte Prinzessin auf ihrem Weg zu begleiten, auch wenn dieser zur Heiligen Iss oder ins Tal Dor führte. Ein kurzes Stück hinter dem Palast holten wir sie ein. Nur Woola, der treue Hund, war bei ihr. Als sie uns erblickte, wurde sie wütend und befahl uns, zum Palast zurückzukehren. Doch dieses eine Mal gehorchten wir nicht. Als sie sah, daß wir sie nicht allein auf die letzte Pilgerfahrt gehen lassen würden, brach sie in Tränen aus, umarmte uns, und gemeinsam marschierten wir durch die Nacht gen Süden. Am nächsten Tag stießen wir auf eine Herde von kleinen Thoats, saßen auf und kamen fortan schnell voran, so daß wir uns bereits tief im Süden befanden, als wir am Morgen des fünften Tages eine große, in nördlicher Richtung segelnde Kriegsflotte auf uns zukommen sahen. Sie erblickten uns, bevor wir uns verbergen konnten, und bald waren wir von einer Horde schwarzer Männer umzingelt. Die Soldaten der Prinzessin kämpften tapfer bis zuletzt, wurden jedoch schnell überwältigt. Nur Dejah Thoris und ich blieben am Leben. Als der Prinzessin klar wurde, daß sie den schwarzen Piraten in die Hände gefallen war, versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Doch einer der Schwarzen entriß ihr den Dolch, und dann fesselten sie uns, so daß wir nicht einmal die Hände bewegen konnten. Nach unserer Gefangennahme setzte die Flotte ihren Weg nach Norden fort. Alles in allem waren es ungefähr zwanzig große Kriegsschiffe, abgesehen von einigen kleineren schnellen Kreuzern. An diesem Abend kehrte eines der kleineren Flugzeuge, das der Flotte weit vorausgeeilt war, mit einer Gefangenen zurück – einer jungen roten Frau, die man in einem Gebirge aufgegriffen hatte, direkt vor der Nase einer aus drei Kriegsschiffen bestehenden Flotte roter Marsmenschen. Gesprächsfetzen, die wir aufschnappten, entnahmen wir, daß die schwarzen Piraten nach einer Gruppe von Flüchtlingen suchten, die ihnen einige Tage zuvor entwischt war. Daß die Gefangennahme der jungen roten Frau für sie wichtig war, sah man daran, daß der Flottenkapitän ein langes, ernstes Gespräch mit ihr führte. Später wurde sie gefesselt zu Dejah Thoris und mir in die Kabine gebracht. Die neue Gefangene war sehr hübsch. Sie erzählte Dejah Thoris, daß sie vor vielen Jahren die freiwillige Pilgerfahrt vom Hofe ihres Vaters, dem Jeddak von Ptarth, angetreten hatte. Sie hieß Thuvia und war die Prinzessin von Ptarth. Dann fragte sie Dejah Thoris nach ihrem Namen, und als sie diesen vernahm, kniete sie nieder, küßte Dejah Thoris’ gefesselte Hände und erzählte ihr, daß sie noch an eben jenem Morgen mit John Carter, Prinz von Helium, und Carthoris, ihren Sohn, zusammen gewesen war.
Dejah Thoris glaubte ihr zuerst nicht, doch schließlich, als die junge Frau all die seltsamen Abenteuer geschildert hatte, die ihr zugestoßen waren, seit sie John Carter getroffen hatte, sowie die Dinge, die John Carter, Carthoris und Xodar von ihrem Aufenthalt im Land der Erstgeborenen berichtet hatten, wußte Dejah Thoris, daß es niemand anders sein konnte als der Prinz von Helium. ›Denn wer auf ganz Barsoom, wenn nicht John Carter, hätte all die Taten vollbringen können, von denen du erzählt hast‹, sagte sie. Und als Thuvia Dejah Thoris von ihrer Liebe für John Carter berichtet hatte, seiner Treue und Untergebenheit für die von ihm erwählte Prinzessin, brach Dejah Thoris zusammen und weinte – verfluchte Zat Arrras und das grausame Schicksal, das sie aus Helium vertrieben hatte.«
»Ich nehme dir nicht übel, daß du ihn liebst, Thuvia«, sagte sie. »Dein aufrichtiges Bekenntnis zeigt mir, daß dein Gefühl für ihn rein und ehrlich ist.«
Die Flotte setzte den Weg nach Norden fort und kam fast bis Helium, doch letzte Nacht wurde den Piraten offensichtlich klar, daß John Carter ihnen tatsächlich entkommen war, und so gingen sie wieder auf Kurs nach Süden. Kurz danach betrat ein Wachposten unser Abteil und zerrte mich an Deck.
»Für eine grüne ist kein Platz im Land der Erstgeborenen«, sagte er und versetzte mir bei diesen Worten einen fürchterlichen Stoß, der mich über Bord gehen ließ. Offensichtlich schien ihm das der einfachste Weg zu sein, das Fahrzeug von meiner Anwesenheit zu befreien und mich gleichzeitig zu töten. Doch das Schicksal meinte es gut mit mir, und wie durch ein Wunder überlebte ich, nur leicht verletzt. Das Schiff flog zu diesem Zeitpunkt sehr langsam, und als ich vom Deck in die Dunkelheit stürzte, erschauderte ich angesichts des schrecklichen Endes, das mir, so glaubte ich, bevorstand, denn den ganzen Tag hatte sich die Flotte in eintausend Fuß Höhe befunden. Doch zu meiner großen Überraschung landete ich keine zwanzig Fuß weiter unten auf einer weichen Pflanzendecke. Eigentlich hätte der Kiel des Schiffes zu dieser Zeit den Boden streifen müssen. Ich blieb die ganze Nacht dort liegen, wo ich aufgekommen war, und der nächste Morgen erklärte mir, welchem Glücksumstand ich mein Leben zu verdanken hatte. Bei Sonnenaufgang bot sich mir weit unten der Ausblick auf einen schier endlosen Meeresgrund. In der Ferne sah ich ein Gebirge. Ich befand mich auf dem höchsten Gipfel einer Gebirgskette. Die Flotte hatte den Bergkamm in der nächtlichen Finsternis beinahe gestreift, und in der kurzen Zeit, in der sie dicht darüber hinweggeflogen war, hatte der schwarze Wachposten mich hinausgeworfen, seines Glaubens in den Tod. Einige Meilen westlich von mir erblickte ich eine große Wasserstraße. Als ich sie erreichte, stellte ich zu meiner Freude fest, daß sie Helium gehörte. Hier beschaffte man mir ein Thoat – und den Rest kennt ihr.