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Sandman steckte das Schreiben ein. »Vielleicht sollte ich dem Gouverneur meine Aufwartung machen?«

»Der Verwalter, Sir, Mister Brown ist der Gefängnisverwalter, aber er legt bestimmt keinen Wert auf Ihre Aufwartung, Sir, weil das nichts bringt. Gehen Sie einfach rein, Sir, und sprechen Sie mit dem Gefangenen. Also, Mister Talbot, Gott hab ihn selig, ist immer mit ihnen in eine der leeren Salzkisten gegangen und hat ein bisschen mit ihnen geplaudert.« Grinsend deutete der Pförtner Schläge an. »Mister Talbot war sehr für die Wahrheit. Groß war er, aber das sind Sie ja auch. Wie hieß der Bursche noch gleich?«

»Corday.«

»Er ist zum Tode verurteilt, oder? Dann finden Sie ihn im Presshof, Euer Ehren. Haben Sie eine Knarre dabei, Sir?«

»Eine Knarre?«

»Eine Pistole, Sir. Nein? Manche Gentlemen tragen eine Waffe, aber das ist nicht ratsam, Sir, weil die Schweinehunde Sie überwältigen könnten. Wollen Sie noch einen Rat haben, Captain?« Der Pförtner, dessen Atem nach Rum stank, packte Sandman am Revers, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Er sagt Ihnen bestimmt, dass er es nicht getan hat, Sir. Hier drinnen gibt es nicht einen Schuldigen, keinen einzigen. Jedenfalls nicht, wenn Sie sie fragen. Sie schwören alle beim Leben ihrer Mutter, dass sie es nicht waren, aber sie waren es doch. Sie waren es alle.« Grinsend ließ er Sandmans Rock los. »Haben Sie eine Uhr, Sir? Haben Sie, Sir? Sie nehmen besser nichts mit rein, was gestohlen werden könnte. Lassen Sie es lieber hier in meinem Schrank, Sir, unter Verschluss und meinem wachsamen Auge. Um die Ecke finden Sie eine Treppe, Sir. Da gehen Sie runter und dann durch den Tunnel. Stören Sie sich nicht an dem Gestank. Aufgepasst!« Diese Warnung richtete sich an alle Anwesenden in der Eingangshalle, weil vier Arbeiter in Begleitung von drei mit Schlagstöcken bewaffneten Wachen einen schlichten Holzsarg aus dem Gefängnis trugen. »Das ist das Mädchen, das sie heute Morgen aufgeknüpft haben, Sir«, vertraute der Pförtner Sandman an. »Es wird zu den Wundärzten gebracht. Die Herren haben gern eine junge Frau zum Zerschneiden. Die Treppe runter, Sir, und dann immer der Nase nach.«

Der Gestank ungewaschener Körper erinnerte Sandman an die spanischen Quartiere erschöpfter Rotröcke. Es wurde immer schlimmer, je weiter er sich in dem gepflasterten Tunnel der Treppe am anderen Ende näherte, die in einem Wachraum neben dem wuchtigen, verriegelten Tor zum Presshof mündete. Zwei mit Knüppeln bewaffnete Schließer bewachten das Tor. »Charles Corday?«, fragte einer, als Sandman sich erkundigte, wo er den Gefangenen finden könne. »Den können Sie gar nicht verpassen. Wenn er nicht im Hof ist, muss er bei den anderen im Aufenthaltsraum sein.« Er deutete auf eine offene Tür am anderen Ende des Hofes. »Er sieht aus wie ‘ne Schnepfe, deshalb können Sie ihn auch nicht verpassen.«

»Eine Schnepfe?«

Der Mann entriegelte das Tor. »Er sieht aus wie ein Mädchen, Sir«, erklärte er boshaft. »Sind wohl ein Freund von ihm, was?« Sein Grinsen schwand, als Sandman sich umdrehte und ihn anstarrte. »Ich sehe ihn nicht auf dem Hof, Sir.« Der Mann hatte gedient und nahm unter Sandmans Blick instinktiv Haltung an. »Dann ist er bestimmt im Aufenthaltsraum, Sir. Die Tür da drüben, Sir.«

Der schmale Presshof lag eingezwängt zwischen hohen, düsteren Gebäuden. Nur wenig Licht fiel durch ein Gewirr von Eisenspitzen auf der Mauer zur Newgate Street in den Hof, wo einige Gefangene, leicht an ihren Fußeisen zu erkennen, mit Besuchern saßen. Kinder spielten an einem offenen Abwassergraben. Ein Blinder saß auf den Stufen, die zu den Zellen führten, brabbelte vor sich hin und kratzte an den Schwären seiner gefesselten Knöchel. Ein Betrunkener, ebenfalls in Ketten, schlief, während eine Frau, offensichtlich seine Ehefrau, still an seiner Seite weinte. Sie hielt Sandman irrtümlich für einen reichen Mann und streckte bettelnd die Hand aus. »Haben Sie Mitleid mit einer armen Frau, Euer Ehren, haben Sie Mitleid.«

Sandman ging in den großen Aufenthaltsraum, der voller Tische und Bänke stand. In einem offenen Kamin brannte ein Kohlenfeuer. Darüber hingen Töpfe an einem verstellbaren Schwenkarm. Zwei Frauen rührten in den Töpfen, offensichtlich kochten sie für gut ein Dutzend Leute, die an den langen Tischen saßen. Der einzige Wärter im Raum, ein jüngerer Mann mit einem Schlagstock, saß ebenfalls an einem Tisch, trank mit den Gefangenen Gin und lachte mit ihnen. Das Gelächter verstummte, als Sandman eintrat. Jemand spuckte aus. Etwas an Sandman, vielleicht seine Größe, strahlte Autorität aus, und an diesem Ort war Autorität nicht willkommen.

»Corday!«, rief Sandman im gewohnten Befehlston des Offiziers. »Ich suche Charles Corday!« Niemand antwortete. »Corday!«, wiederholte Sandman.

»Sir?« Die zittrige Stimme kam aus der abgelegensten, dunkelsten Ecke des Raumes. Sandman schlängelte sich zwischen den Tischen durch und erblickte eine jämmerliche Gestalt, die an der Wand kauerte. Charles Corday war sehr jung, kaum älter als siebzehn, dünn, ja, geradezu schmächtig, und hatte ein totenbleiches Gesicht, das von langem, blondem Haar gerahmt war und tatsächlich mädchenhaft wirkte. Er hatte lange Wimpern, zitternde Lippen und einen blauen Fleck auf einer Wange.

»Sind Sie Charles Corday?« Sandman fasste unwillkürlich eine tiefe Abneigung gegen den Jungen, der allzu zart und weinerlich aussah.

»Ja, Sir.« Cordays rechter Arm zitterte.

»Stehen Sie auf«, befahl Sandman. Corday blinzelte überrascht über den Kommandoton, gehorchte aber mit schmerzverzerrtem Gesicht, weil die Fußeisen ihm in die Knöchel schnitten. »Der Innenminister schickt mich«, sagte Sandman, »wir müssen uns irgendwo ungestört unterhalten. Vielleicht können wir eine der Zellen benutzen? Kommen wir von hier aus dorthin. Oder vom Hof aus?«

»Vom Hof, Sir«, sagte Corday, obwohl er die restlichen Erklärungen seines Besuchers kaum verstanden zu haben schien.

Sandman führte Corday zur Tür. »Ist das dein Freier, Charlie?«, fragte ein Mann in Beinschellen. »Kommt wohl, um dich zum Abschied noch mal zu knutschen, was?« Die anderen Gefangenen lachten, aber Sandman besaß die Fähigkeit des erfahrenen Offiziers, ungebührliches Benehmen zu ignorieren, und ging einfach weiter.

Als er Corday kreischen hörte, drehte er sich um und sah, dass ein unrasierter Mann mit fettigem Haar Corday an den Haaren zog wie an einer Leine. »Ich hab dich was gefragt, Charlie!«, sagte der Mann und zerrte an Cordays Haaren, dass der Junge erneut aufschrie. »Gib uns einen Kuss, Charlie«, forderte der Mann, »gib uns einen Kuss.« Die Frauen am Tisch beim Kamin lachten über Cordays Not.

»Lassen Sie ihn los«, sagte Sandman.

»Du hast hier nichts zu befehlen, Kumpel«, knurrte der unrasierte Mann. »Hier drin gibt keiner Befehle, hier gibt es keine Befehle mehr, bis Jemmy uns holen kommt, also verpiss dich, Kumpel, du kannst …« Plötzlich verstummte der Mann und gab dann einen merkwürdigen Schrei von sich. »Nein! Nein!«

Rider Sandman neigte von jeher zum Jähzorn. Er wusste es und kämpfte dagegen an. Im Alltag schlug er einen sanften, bedächtigen Ton an, gab sich höflicher als nötig, übte sich in Vernunft und Gebet aus Angst vor seinem eigenen Temperament, aber alle Gebete, Vernunft und Höflichkeit hatten seine Wutanfälle nicht ausgemerzt. Seine Soldaten hatten gewusst, dass in Captain Sandman der Teufel steckte. Es war ein wahrhaftiger Teufel, und sie wussten, dass man diesen Mann nicht erzürnen durfte, weil sein Jähzorn so plötzlich und wild aufflammte wie ein Sommergewitter. Zudem war er groß und kräftig, stark genug, den unrasierten Gefangenen hochzuheben und mit einer Wucht gegen die Wand zu schlagen, dass der Kopf des Mannes von den Steinen abprallte. Dann schrie der Mann, weil Sandman ihm die geballte Faust in den Unterleib gerammt hatte. »Ich habe gesagt, Sie sollen ihn loslassen«, fuhr Sandman ihn scharf an. »Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Sind Sie taub oder nur ein gottverdammter Idiot?« Er schlug dem Mann zwei Mal ins Gesicht. Seine Augen funkelten und in seinem Ton brodelte die Androhung noch schrecklicherer Gewalt. »Verdammt! Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?« Er schüttelte den Mann. »Antworten Sie!«