»Captain«, grüßte Sally Sandman kleinlaut.
»Ihr Diener, Miss Hood«, antwortete Sandman mit einer weiteren Verbeugung.
»Grundgütiger Gott!«, sagte der Maler. »Sind Sie meinetwegen oder wegen Sally hier?« Er war beleibt, ja, dick wie ein Fass, hatte aufgedunsene Wangen, eine dicke Nase und einen Bauch, über dem sich ein farbverschmiertes Rüschenhemd spannte. Sein weißes Haar steckte unter einer engen Kappe, wie man sie unter Perücken trug.
»Sir George?«, fragte Sandman.
»Zu Ihren Diensten, Sir.« Sir George deutete eine Verbeugung an, die aber bei seiner Leibesfülle lediglich zum leichten Hüftschwung geriet, und machte mit dem Pinsel in seiner Hand eine hübsch ausladende Geste, als sei es ein Fächer. »Seien Sie willkommen«, sagte er, »solange Sie einen Auftrag mitbringen. Ich verlange achthundert Guineen für ein Ganzfigurstück, sechshundert für ein Kniestück, und Brustbilder mache ich nur, wenn ich zu verhungern drohe, was seit 1799 nicht mehr vorgekommen ist. Viscount Sidmouth schickt Sie?«
»Er möchte sich nicht malen lassen, Sir George.«
»Dann können Sie gleich wieder verschwinden!«, sagte der Maler. Sandman überhörte den Vorschlag und schaute sich im Atelier um, das mit seinem Gewirr aus Gipsstatuen, Draperien, alten Lappen und halb fertigen Gemälden einen wilden Eindruck machte. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, schnaubte Sir George, dann rief er die Treppe hinunter: »Sammy, wo bleibt der Tee?«
»Kommt gleich!«, antwortete Sammy.
»Beeil dich!« Sir George warf Palette und Pinsel beiseite. Neben ihm malten zwei Jungen Wellen auf die Leinwand, Sandman nahm an, dass sie seine Lehrlinge waren. Das Gemälde war riesig, mindestens zehn Fuß breit, und zeigte einen einsamen Felsen in einem sonnenbeschienenen Meer mit einer erst zur Hälfte gemalten Flotte. Auf dem Felsen saß ein Admiral, flankiert von einem gut aussehenden jungen Mann in Matrosenuniform und von Sally Hood als Britannia. Warum sich der Admiral, der Matrose und Britannia einsam auf diesem ausgesetzten Felsen befanden, war nicht ganz ersichtlich, aber Sandman wollte auch nicht fragen. Ihm fiel auf, dass der Offizier, der für den Admiral Modell stand, kaum älter als achtzehn sein konnte, aber eine Uniform mit goldenen Tressen und zwei juwelenbesetzten Sternen trug. Das wunderte Sandman einen Augenblick, bis er sah, dass der rechte Ärmel des Jungen leer auf die Brust der Uniformjacke geheftet war. »Der echte Nelson ist tot.« Sir George war Sandmans Blick gefolgt und ahnte seinen Gedankengang. »Wir müssen uns also, so gut es geht, mit dem jungen Master Corbett behelfen. Wissen Sie, was die Tragödie in Master Corbetts Leben ist? Er kehrt Britannia den Rücken zu und muss so tagtäglich stundenlang in dem Wissen da sitzen, dass sich ein Paar der üppigsten Brüste von ganz London kaum zwei Fuß hinter seinem linken Ohr befindet und er sie nicht sehen kann. Ha! Meine Güte, Sally, hör auf, dich zu verstecken.«
»Sie malen doch gar nicht, dann kann ich mich auch bedecken«, sagte Sally. Sie hatte das graue Tuch, das die Kiste in einen Felsen verwandelte, gegen ihren Mantel eingetauscht.
Sir George griff zum Pinsel. »Jetzt male ich«, knurrte er.
»Mir ist kalt«, jammerte Sally.
»Bist dir wohl plötzlich zu fein, dich zu zeigen, was?«, schnaubte Sir George und schaute Sandman an. »Hat Sie Ihnen von ihrem Lord erzählt? Von dem, der sich in sie verguckt hat? Bald müssen wir uns vor ihr verneigen und Kratzfüße machen, was? Ja, Ihre Ladyschaft, zeigen Sie uns Ihre Brüste, Ihre Ladyschaft.« Er lachte, und seine Lehrjungen grinsten.
»Sie hat Sie nicht belogen«, sagte Sandman. »Seine Lordschaft existiert, ich kenne ihn, und er ist tatsächlich bezaubert von Miss Hood. Außerdem ist er sehr reich. Mehr als reich genug, um ein Dutzend Porträts bei Ihnen in Auftrag zu geben, Sir George.«
Sally schaute ihn voller Dankbarkeit an, während Sir George unbehaglich den Pinsel in die Farbe auf seiner Palette tauchte. »Wer zum Teufel sind Sie denn nun?«, herrschte er Sandman an. »Abgesehen davon, dass Sie von Sidmouth kommen?«
»Mein Name ist Captain Rider Sandman.«
»Marine, Armee, Landwehr, Miliz oder sind Sie ein Fantasiehauptmann? Das gilt ja heutzutage für die meisten militärischen Ränge.«
»Ich war in der Armee«, sagte Sandman.
»Du kannst dich wieder ausziehen«, sagte Sir George zu Sally, »der Captain war Soldat, er hat also bestimmt schon mehr Brüste gesehen als ich.«
»Aber meine noch nicht«, sagte Sally und hielt sich den Mantel vor der Brust zu.
»Woher kennen Sie sie eigentlich?«, erkundigte Sir George sich misstrauisch bei Sandman.
»Wir wohnen im selben Gasthaus, Sir George.«
Sir George schnaubte verächtlich. »Dann wohnt sie entweder in besseren Verhältnissen, als sie verdient, oder Sie leben in schlechteren. Zieh den Mantel aus, du dumme Gans.«
»Es ist mir peinlich«, gestand Sally errötend.
»Er hat schon Schlimmeres gesehen als deinen nackten Körper«, erklärte Sir George säuerlich und trat einen Schritt zurück, um sein Gemälde zu begutachten. »Die Apotheose des Lord Nelson. Sicher wundern Sie sich, warum ich den Burschen nicht mit Augenklappe male? Wundert Sie das nicht?«
»Nein«, sagte Sandman.
»Weil er nie eine Augenklappe getragen hat, deshalb. Nie! Ich habe ihn zu Lebzeiten zwei Mal gemalt. Manchmal trug er eine grüne Schirmmütze, aber nie eine Augenklappe, also wird er auf diesem Meisterwerk, das die Lords der Admiralität in Auftrag gegeben haben, auch keine tragen. Als er noch lebte, konnten sie den Kerl nicht ausstehen, aber jetzt wollen sie ihn sich an die Wand hängen. Eigentlich wollen sie Sally Hoods Brüste an ihre Täfelung hängen, Captain Sandman. Sammy, du schwarzer Hund! Was zum Teufel treibst du da unten? Müssen die verdammten Teeblätter erst noch wachsen? Bring mir Brandy!« Er funkelte Sandman wütend an. »Und was wollen Sie von mir, Captain?«
»Über Charles Corday reden.«
»Heiliger Strohsack«, fluchte Sir George und starrte Sandman streitlustig an. »Charles Corday?«, sagte er finster. »Sie meinen den schäbigen kleinen Charlie Cruttwell?«
»Der sich mittlerweile Corday nennt, ja.«
»Spielt ja wohl keine Rolle, wie er sich nennt«, sagte Sir George, »nächsten Montag knüpfen sie ihn so oder so auf. Ich habe überlegt, ob ich es mir nicht anschauen soll. Schließlich sieht man nicht alle Tage, wie einer der eigenen Lehrlinge gehenkt wird.« Er gab einem der Jungen, die emsig an den weiß gefleckten Wellen pinselten, einen Klaps und maulte seine drei Modelle an. »Sally, meine Güte, deine Titten kosten mein Geld. Jetzt stell dich in Pose, dafür wirst du schließlich bezahlt!«
Sandman kehrte ihr taktvoll den Rücken zu, als sie den Mantel fallen ließ. »Der Innenminister hat mich gebeten, den Fall Corday zu untersuchen«, erklärte er.
Sir George lachte. »Seine Mutter hat also der Königin in den Ohren gelegen, was?«
»Ja.«
»Ein Glück für den kleinen Charlie, dass er so eine Mutter hat. Wollen Sie wissen, ob er es getan hat?«
»Er sagt, er war es nicht.«
»Klar sagt er Ihnen das«, antwortete Sir George boshaft. »Er wird Ihnen ja wohl kaum ein Geständnis ablegen, oder? Aber so seltsam es auch ist, vermutlich sagt er Ihnen die Wahrheit. Zumindest was die Vergewaltigung angeht.«
»Er hat sie nicht vergewaltigt?«
»Er könnte es getan haben.« Mit zarten Farbtupfern erweckte Sir George Sallys Gesicht unter dem Helm zu erstaunlichem Leben. »Er könnte es getan habe, aber es wäre gegen seine Natur.« Sir George musterte Sandman verstohlen. »Unser Monsieur Corday ist ein Sodomit, Captain.« Er lachte über Sandmans Miene. »Dafür wird man gehenkt, es spielt für Charlie also keine große Rolle, ob er den Mord begangen hat oder nicht, stimmt’s? Der Sodomie ist er gewiss schuldig, also hat er den Galgen verdient. Das gilt für sie alle. Diese widerlichen warmen Brüder. Ich würde sie alle aufknüpfen, allerdings nicht am Hals.«