Sammy kam ohne Livree und Perücke, aber mit einem Tablett, auf dem bunt zusammengewürfelte Tassen, eine Kanne Tee und eine Flasche Brandy standen. Der Junge schenkte Sir George und Sandman Tee ein, aber nur Sir George bekam ein Glas Branntwein. »Ihr bekommt euren Tee gleich, wenn ich fertig bin«, sagte Sir George den drei Modellen.
»Sind Sie sicher?«, fragte Sandman.
»Dass sie gleich ihren Tee bekommen? Oder dass Charlie ein Sodomit ist? Natürlich bin ich sicher. Sie könnten Sally und ein Dutzend von ihrer Sorte bis auf die Haut ausziehen, und er würde nicht mal hinschauen, aber Sammy hat er ständig an die Wäsche gewollt, stimmt’s, Sammy?«
»Ich habe ihm gesagt, er soll abhauen«, antwortete Sammy.
»Gut so, Samuel!«, sagte Sir George, legte den Pinsel ab und stürzte den Brandy hinunter. »Und jetzt fragen Sie sich, Captain, warum ich einen dreckigen Sodomiten in diesem Tempel der Kunst dulde? Ich will es Ihnen sagen. Weil Charlie gut war, o ja, er war gut.« Er schenkte sich noch einen Brandy ein, trank ihn zur Hälfte und wandte sich wieder seiner Leinwand zu. »Er konnte wunderbar zeichnen, Captain, wie der junge Raffael. Es war eine Freude, ihm zuzusehen. Er hatte Talent, was mehr ist, als ich von diesen beiden Metzgerburschen behaupten kann.« Er gab dem zweiten Lehrling einen Klaps. »Nein, Charlie war gut. Er konnte malen und zeichnen, daher konnte ich ihm nicht nur Draperien überlassen, sondern auch Fleisch. In einem oder zwei Jahren hätte er sich selbständig gemacht. Das Gemälde der Countess? Es steht da drüben, wenn Sie sehen möchten, wie gut er war.« Er deutete auf einige ungerahmte Gemälde, die an einem Tisch voller Töpfe, Leim, Messer, Mörser und Ölfläschchen lehnten. »Hole es her, Barney«, befahl Sir George einem seiner Lehrlinge. »Das hat alles er gemalt, Captain, es war noch nicht so weit gediehen, dass es mein Können erfordert hätte.«
»Er hätte es nicht allein fertig stellen können?«, fragte Sandman und trank von seinem Tee, einer exzellenten Mischung aus schwarzem und grünem Tee.
Sir George lachte. »Was hat er Ihnen erzählt, Captain? Nein, lassen Sie mich raten. Charlie hat Ihnen erzählt, ich könnte es nicht mehr? Er hat gesagt, ich sei ein Trinker, deshalb habe er Ihre Ladyschaft malen müssen. Hat er Ihnen das erzählt?«
»Ja«, gab Sandman zu.
Sir George war amüsiert. »Dieser miese kleine Lügner. Dafür hat er den Galgen verdient.«
»Warum haben Sie ihn die Countess denn malen lassen?«
»Denken Sie mal nach«, sagte Sir George. »Sally, Schultern zurück, Kopf hoch, Brust heraus, so ist es recht, Mädchen. Du bist Britannia, du beherrschst die Meere, du bist nicht irgendeine verdammte Hure aus Brighton, die schlaff auf einem Stein hängt.«
»Warum?«, hakte Sandman nach.
»Captain«, Sir George hielt für einen Pinselstrich inne, »weil wir die Dame reinlegen wollten. Wir haben sie in Kleidern gemalt, aber später sollte sie hier im Atelier nackt dargestellt werden. Der Earl wollte es so, und das hätte Charlie erledigt. Wenn ein Mann einen Maler bittet, seine Frau nackt zu malen, und das tun erstaunlich viele, können Sie sicher sein, dass das fertige Porträt nicht öffentlich gezeigt wird. Hängt ein Mann so ein Bild in sein Morgenzimmer, damit seine Freunde sich daran aufreizen? Nein. Zeigt er es in seinem Londoner Haus zur Erbauung der Gesellschaft? Nein. Er hängt es in sein Ankleidezimmer oder in sein Arbeitszimmer, wo niemand außer ihm es zu sehen bekommt. Und was nützt mir das? Wenn ich ein Bild male, möchte ich, dass ganz London es bestaunt, Captain. Ich möchte, dass sie auf dieser Treppe hier Schlange stehen und mich anbetteln, das gleiche für sie zu malen. Das heißt also, mit den Brüsten der Gesellschaft ist kein Geld zu verdienen. Ich male die Gewinn bringenden Bilder, Charlie war für die Boudoirporträts zuständig.« Er trat einen Schritt zurück und musterte den jungen Mann, der als Matrose Modell stand. »Du hältst das Ruder völlig falsch, Johnny. Vielleicht sollte ich dich nackt malen. Als Neptun.« Er drehte sich um und beäugte Sandman. »Wieso ist mir das nicht früher eingefallen? Sie gäben einen guten Neptun ab, Captain. Gute Figur haben Sie. Wären Sie so nett, sich nackt auszuziehen und sich Sally gegenüber zu stellen? Wir geben Ihnen ein Tritonshorn, das Sie aufrecht in der Hand halten. Irgendwo habe ich ein Tritonshorn, ich habe es damals für die Apotheose des Earl of Vincent gebraucht.«
»Was zahlen Sie?«, fragte Sandman.
Die Antwort überraschte Sir George. »Fünf Schillinge pro Tag.«
»Das bezahlen Sie mir nicht!«, beschwerte sich Sally.
»Weil du bloß eine Frau bist!«, fuhr Sir George sie an und musterte Sandman. »Also?«
»Nein«, antwortete Sandman, verstummte aber schlagartig.
Der Lehrling hatte die Gemälde nacheinander umgedreht, nun hielt Sandman ihn auf. »Lass mich dieses mal sehen.« Er deutete auf ein Ganzfigurstück.
Der Lehrling zog es aus dem Stapel und stellte es so auf einen Stuhl, dass es voll im Licht eines Dachfensters stand. Es zeigte eine junge Frau an einem Tisch, die den Kopf beinahe kampflustig schräg legte. Ihre rechte Hand lag auf einem Stapel Bücher, während die Linke ein Stundenglas hielt. Ihr rotes Haar war hoch gesteckt und ließ einen langen, schlanken Hals mit einer Saphirkette erkennen. Sie trug ein silbern-blaues Kleid mit weißen Spitzen an Kragen und Manschetten. Ihre Augen schauten kühn aus dem Gemälde, was den Eindruck des Streitlustigen noch verstärkte, aber vom Anflug eines Lächelns gemildert wurde.
»Das ist eine sehr gescheite junge Dame«, sagte Sir George ehrfürchtig. »Sei vorsichtig damit, Barney, es geht heute Nachmittag zum Firnissen. Gefällt es Ihnen, Captain?«
»Es ist …« Sandman stockte und suchte nach einem Wort, das Sir George schmeicheln würde. »Es ist wunderbar«, sagte er schließlich lahm.
»Das ist es wahrhaftig«, sagte Sir George begeistert und trat von Nelsons Apotheose fort, um die junge Frau zu bewundern. Ihr rotes Haar war aus der hohen, breiten Stirn gekämmt, die Nase war lang und gerade, der Mund breit und voll. Sie war in einem luxuriösen Wohnzimmer dargestellt vor einer Wand voller Ahnenporträts, die den Anschein erweckten, als käme sie aus einer sehr alten Familie, obwohl ihr Vater in Wahrheit der Sohn eines Apothekers und ihre Mutter eine Pfarrerstochter war, die nach allgemeiner Auffassung unter Stand geheiratet hatte. »Miss Eleanor Forrest«, sagte Sir George. »Ihre Nase ist zu lang, ihr Kinn zu spitz, ihre Augen stehen zu weit auseinander, um im herkömmlichen Sinne als schön zu gelten, ihr Haar ist bedauerlich rot, und ihr Mund ist zu üppig, aber die Wirkung ist außergewöhnlich, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Sandman inbrünstig.
»Doch von allen Eigenschaften der jungen Dame bewundere ich am meisten ihre Intelligenz.« Sir George hatte seine spöttische Art nun fallen lassen und sprach mit echter Wärme. »Ich fürchte, sie ist in der Heirat verschwendet.«
»Tatsächlich?« Sandman rang um einen Ton, der seine Gefühle nicht verriet.
»Nach allem, was ich zuletzt gehört habe, sprach man von ihr als der zukünftigen Lady Eagleton.« Sir George wandte sich wieder Nelson zu. »Das Porträt soll, glaube ich, ein Geschenk für ihn sein, aber Miss Eleanor ist zu klug, um mit einem Narren wie Eagleton verheiratet zu werden. Die reinste Verschwendung.«
»Eagleton?« Sandman hatte das Gefühl, eine kalte Hand habe nach seinem Herzen gegriffen. War das die Nachricht, die Lord Alexander ihm von Eleanor hatte ausrichten sollen? Dass Eleanor sich mit Lord Eagleton verlobt hatte?
»Lord Eagleton, Erbe des Earl of Bridport und ein Langweiler. Ein Langweiler, Captain, ein Langweiler, und ich verabscheue Langweiler. Soll Sally Hood tatsächlich eine Lady werden? Gütiger Himmel, mit England geht’s bergab. Brust raus, Schätzchen, noch bist du nicht adelig und genau dafür zahlt die Admiralität. Barney, hole das Bild der Countess.«
Der Lehrling suchte eifrig die Gemälde durch. Ein böiger Wind ließ die Dachbalken knarren. Sammy leerte zwei der Eimer, in die der Regen tropfte, indem er sie zum rückwärtigen Fenster hinausschüttete und unten erboste Proteste auslöste. Sandman schaute aus dem vorderen Fenster, an der Markise des Juweliers Gray vorbei auf die Sackville Street. Sollte Eleanor wirklich bald heiraten? Er hatte sie seit mehr als sechs Monaten nicht mehr gesehen, es war also durchaus möglich. Ihre Mutter hatte es jedenfalls eilig, Eleanor vor den Traualtar zu bringen, vorzugsweise mit einem Adeligen, da Eleanor inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt war und bald als sitzen gebliebene alter Jungfer gelten würde. Verdammt, vergiss sie, dachte Sandman. »Das ist es, Sir«, unterbrach Barney, der Lehrling, seine Grübeleien. Er stellte das unfertige Gemälde vor Eleanors Bild. »Die Countess of Avebury, Sir.«