Noch eine Schönheit, dachte Sandman. Das Gemälde war kaum begonnen, aber dennoch von seltsamer Wirkung. Auf die grundierte Leinwand war mit Kohle eine liegende Frau auf einem Bett gezeichnet, das von einem spitz zulaufenden Baldachin wie ein Zelt überragt wurde. Corday hatte an einigen Stellen Proben der Tapete, des Baldachins, der Bettdecke, des Teppichs gemalt sowie das Gesicht der Frau. Das Haar war leicht angedeutet, was es wild erscheinen ließ, als liege die Countess nicht in einem Londoner Schlafzimmer sondern im Wind auf dem Lande, und obwohl der Rest des Gemäldes kaum Farben aufwies, wirkte es atemberaubend lebendig.
»Ja, malen konnte er, unser Charlie, malen konnte er.« Sir George hatte sich die Hände an einem Lappen abgewischt und war herübergekommen, um sich das Gemälde anzusehen. Seine Stimme klang respektvoll, und seine Augen verrieten eine Mischung aus Bewunderung und Neid. »Er ist ein schlauer kleiner Teufel, nicht wahr?«
»Ist die Ähnlichkeit gut?«
»O ja«, nickte Sir George, »wahrhaftig. Sie war eine Schönheit, Captain, eine Frau, die Männern den Kopf verdrehen konnte, aber das war auch schon alles. Sie kam aus der Gosse, Captain. Sie war das gleiche wie unsere Sally. Tänzerin.«
»Ich bin Schauspielerin«, wehrte Sally sich vehement.
»Schauspielerin, Tänzerin, Hure, das ist doch alles das Gleiche«, knurrte Sir George. »Und Avebury war ein Narr. Er hätte sie sich als Mätresse halten, aber niemals heiraten sollen.«
»Der Tee ist kalt«, schimpfte Sally. Sie hatte das Podest verlassen und ihren Helm abgelegt.
»Geh Mittag essen, Kind«, sagte Sir George großzügig, »aber um zwei Uhr bist du wieder hier. Sind Sie fertig, Captain?«
Sandman nickte. Er starrte auf das Gemälde der Countess. Ihr Kleid war nur mit ganz leichten Strichen angedeutet, vermutlich weil es später fortgelassen werden sollte, aber ihr zugleich auffallendes und reizvolles Gesicht war fast fertig. »Sagten Sie, der Earl of Avebury habe das Porträt in Auftrag gegeben?«, fragte er.
»Das sagte ich, und das entspricht den Tatsachen«, bestätigte Sir George.
»Ich habe aber gehört, dass er und seine Frau sich getrennt hatten«, sagte Sandman.
»Das stimmt, soviel ich weiß«, sagte Sir George munter und lachte boshaft. »Hörner hat sie ihm bestimmt aufgesetzt. Ihre Ladyschaft hatte einen gewissen Ruf, Captain, und der bezog sich nicht darauf, sich um die Armen und Kranken zu kümmern.« Er zog einen altmodischen Rock mit weiten Stulpen, breitem Kragen und vergoldeten Knöpfen über. »Sammy«, rief er zur Treppe hinunter. »Ich esse die Wildpastete hier oben! Und etwas von dem Salat mit dem kalten Braten, wenn er noch nicht schimmelig ist. Du kannst auch noch eine Flasche von dem Claret öffnen.« Er schlenderte zum Fenster und schimpfte über den Regen, der gegen den Rauch aus unzähligen Schornsteinen ankämpfte.
»Warum sollte ein Mann ein Vermögen für ein Porträt seiner Frau ausgeben, von der er getrennt lebt?«, fragte Sandman.
»Die Welt ist selbst mir ein Rätsel«, sagte Sir George finster. »Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Er wandte sich vom Fenster ab. »Da müssten Sie schon Seine gehörnte Lordschaft fragen. Ich glaube, er lebt in der Nähe von Marlborough, ist allerdings als Einsiedler bekannt, eine Reise dorthin wäre also vermutlich vergebens. Andererseits ist es vielleicht doch kein Rätsel. Vielleicht wollte er sich an ihr rächen? Sie nackt an seine Wand zu hängen wäre ja wohl eine Art Rache, oder?«
»Wäre es das?«
Sir George kicherte. »Niemand legt so großen Wert auf seine Stellung wie eine geadelte Hure, Captain, warum sollte man das Flittchen also nicht daran erinnern, was ihr den Titel eingebracht hat? Ohne ihre guten Titten und langen Beine würde sie heute noch zehn Schillinge pro Nacht verlangen.
Aber hat Charlie, der kleine Sodomit, sie getötet? Ich bezweifle es, Captain, ich bezweifle es sehr, aber es kümmert mich nicht weiter. Der kleine Charlie wurde allmählich allzu übermütig, ich werde also nicht um ihn trauern, wenn ich ihn am Galgen baumeln sehe. Ach!« Er rieb sich die Hände, als sein Diener mit einem schweren Tablett die Treppe heraufkam. »Mittagessen! Ich wünsche einen guten Tag, Captain, ich hoffe, ich konnte Ihnen behilflich sein.«
Sandman war sich nicht sicher, ob Sir George ihm hatte helfen können, es sei denn, man schätzte es als nützlich ein, dass er seine Verwirrung nur noch verstärkt hatte. In jedem Fall war das Gespräch für Sir George beendet und Sandman entlassen.
Also ging er. Inzwischen regnete es noch stärker.
»Das fette Schwein gibt uns nie Mittagessen«, beschwerte sich Sally Hood. Sie saß Sandman gegenüber in einer Schänke am Piccadilly, wo sie sich, von Sir George Phillips’ Mahlzeit inspiriert, gemeinsam eine Schüssel Salat mit gekochtem Fleisch, Sardellen, hart gekochten Eiern und Zwiebeln teilten. »Er frisst sich voll, und wir sollen verhungern.« Sie brach sich ein Stück Brot ab, schüttete noch etwas Öl in die Schüssel und lächelte Sandman schüchtern an. »Es war mir so peinlich, als Sie reingekommen sind.«
»Es muss Ihnen nicht peinlich sein«, sagte Sandman. Als er Sir Georges Atelier verließ, hatte er Sally eingeladen, mit ihm essen zu gehen. Gemeinsam waren sie durch den Regen ins Three Ships gelaufen, wo er von dem Vorschuss des Innenministeriums den Salat und einen großen Krug Ale bestellt hatte.
Sally streute Salz in die Schüssel und rührte den Salat kräftig um. »Sie erzählen es doch keinem?«, fragte sie sehr ernst.
»Natürlich nicht.«
»Ich weiß, dass es keine Schauspielerei ist, und ich mag es auch nicht, dass dieser fette Kerl mich den ganzen Tag anstarrt, aber schließlich ist es Zaster, oder?«
»Zaster?«
»Geld.«
»Es ist Zaster«, bestätigte Sandman.
»Ich hätte nichts von Ihrem Freund erzählen sollen«, sagte Sally. »Ich bin mir so dumm vorgekommen.«
»Sie meinen Lord Alexander?«
»Ich bin dumm, was?« Sie grinste ihn an.
»Natürlich nicht.«
»Doch«, wandte sie vehement ein, »aber ich will so was nicht ewig machen. Ich bin jetzt zweiundzwanzig und muss bald etwas finden, oder? Und gegen einen echten Lord hätte ich nichts einzuwenden.«
»Sie möchten heiraten?«
Sie nickte, zuckte die Achseln und spießte ein halbes Ei auf ihre Gabel. »Ich weiß nicht«, gab sie zu. »Ich meine, wenn das Leben schön ist, ist es sehr schön. Vor zwei Jahren hat es mir nie an Arbeit gefehlt. Ich war die Dienerin einer Hexe in einem Theaterstück über einen schottischen König.« Sie überlegte angestrengt, wie er geheißen hatte, schüttelte dann aber den Kopf. »Ein Mistkerl war das, und dann war ich Tänzerin in einem Historienspiel über einen schwarzen König, der in Indien umgekommen ist, der war auch ein Mistkerl, aber in den letzten zwei, drei Monaten? Nichts! Nicht einmal in den Vauxhall Gardens gibt es Arbeit!«
»Was haben Sie da gemacht?«
Sally schloss die Augen, als müsse sie nachdenken. »Tabbel, Tabbler?«
»Tableaux vivants? Lebende Bilder?«
»Genau! Letzten Sommer war ich drei Monate lang eine Göttin. Ich saß auf einem Baum, spielte Harfe, und der Zaster war nicht schlecht. Dann bekam ich eine Stelle im Astley’s bei den tanzenden Pferden, das hat mich über den Winter gebracht, aber jetzt gibt es gar nichts, nicht mal auf dem Strand!« Sie meinte die neueren Theater, die mehr Musik und Tanz boten als die älteren Bühnen in der Drury Lane und am Covent Garden. »Aber demnächst trete ich in einer Privatvorstellung auf.« Sie schnaubte verächtlich über diese Aussicht.