Выбрать главу

»Privat?«, fragte Sandman.

»Ein reicher Knopf will, dass seine Freundin Schauspielerin wird, verstehen Sie? Also mietet er das Theater außerhalb der Saison und bezahlt uns fürs Singen und Tanzen, das Publikum fürs Klatschen und die Schreiberlinge dafür, dass sie sie in der Zeitung als neue Vestris feiern. Möchten Sie kommen? Es ist am Donnerstagabend in Covent Garden, aber es ist nur für einen Abend, reicht also nicht mal für die Miete.«

»Wenn ich kann, komme ich gern«, versprach Sandman.

»Was ich brauche, ist eine feste Anstellung am Theater«, sagte Sally. »Die könnte ich auch bekommen, wenn ich bereit wäre, eine Dirne zu werden. Und dieses fette Schwein«, mit einer Kopfbewegung deutete sie an, dass sie Sir George Phillips meinte, »hält mich für eine Dirne, aber das bin ich nicht.«

»Das habe ich auch nie angenommen.«

»Dann sind Sie aber der Einzige.« Sie grinste ihn an. »Na ja, Sie und mein Bruder. Jack würde jeden umbringen, der behauptete, ich sei eine Dirne.«

»Das spricht für Jack. Ich mag Ihren Bruder«, sagte Sandman.

»Jeder mag Jack.«

»Eigentlich kenne ich ihn kaum«, sagte Sandman, »aber er macht einen netten Eindruck.« Die wenigen Male, als Sandman Sallys Bruder begegnet war, hatte er auf ihn selbstbewusst und ungezwungen gewirkt. Er war beliebt, trat im Schankraum des Wheatsheaf als großzügiger Gastgeber auf, sah auffallend gut aus und lockte einen Schwarm junger Frauen an. Ihn umwitterte etwas Geheimnisvolles, da niemand im Gasthaus so recht sagen wollte, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Aber offensichtlich hatte er ordentliche Einkünfte, denn er und Sally hatten im ersten Stock des Wheatsheaf zwei große Zimmer gemietet. »Was macht Ihr Bruder eigentlich?«, fragte Sandman nun, wofür er von Sally einen überaus merkwürdigen Blick erntete. »Nein, wirklich, was macht er?«, wiederholte Sandman. »Ich frage nur, weil er zu ungewöhnlichen Tageszeiten arbeitet.«

»Sie wissen nicht, wer er ist?«, fragte Sally.

»Sollte ich?«

»Er ist Robin Hood«, sagte Sally und musste über Sandmans Miene lachen. »Das ist mein Jack, Captain. Robin Hood.«

»Mein Gott«, sagte Sandman. Robin Hood war der Spitzname eines Straßenräubers, der in ganz London gesucht wurde. Als Belohnung für seinen Kopf waren weit über hundert Pfund ausgesetzt, und die Summe stieg stetig.

Sally zuckte die Achseln. »Er ist wirklich verrückt. Ständig sage ich ihm, dass er am Ende noch nach Jemmy Bottings Pfeife tanzen wird, aber er will nicht hören. Aber er kümmert sich um mich. Na ja, bis zu einem gewissem Punkt jedenfalls, bei Jack heißt es immer, feiern oder verhungern, und wenn er flüssig ist, gibt er das Geld für seine Weiber aus. Aber zu mir ist er gut, wirklich, und er würde nie zulassen, dass jemand mich anfasst.« Sie runzelte die Stirn. »Sie sagen es doch niemandem?«

»Natürlich nicht!«

»Ich meine, im Wheatsheaf weiß jeder, wer er ist, aber niemand würde ihn verraten.«

»Ich ebenfalls nicht«, versicherte Sandman ihr.

»Natürlich nicht«, sagte Sally grinsend. »Und was ist mit Ihnen? Was wünschen Sie sich vom Leben?«

Überrascht über die Frage dachte Sandman nach. »Ich schätze, ich wünsche mir mein Leben von früher zurück.«

»Krieg? Soldat sein?« Sie klang missbilligend.

»Nein. Nur den Luxus, mir keine Sorgen machen zu müssen, woher der nächste Schilling kommt.«

Sally lachte. »Das wollen wir alle.« Sie schüttete noch mehr Öl und Essig in die Schüssel und rührte um. »Sie hatten also Geld, ja?«

»Mein Vater. Er war ein sehr reicher Mann, aber dann machte er einige schlechte Investitionen, lieh sich zu viel Geld, spielte und verlor. Er fälschte ein paar Wechsel und legte sie bei der Bank vor …«

»Wechsel?« Sally verstand nicht, was er meinte.

»Anweisungen, Geld auszuzahlen«, erklärte Sandman. »Es war natürlich dumm von ihm, aber vermutlich war er verzweifelt. Er wollte etwas Geld auftreiben und nach Frankreich fliehen, aber die Fälschungen wurden entdeckt, und er stand kurz vor der Verhaftung. Sie hätten ihn aufgehängt, aber bevor die Polizei kam, schoss er sich eine Kugel in den Kopf.«

»Gooott«, sagte Sally und starrte ihn an.

»Meine Mutter hat also alles verloren. Sie lebt jetzt mit meiner jüngeren Schwester in Winchester, und ich versuche sie am Leben zu erhalten, zahle die Miete, kümmere mich um die Rechnungen und Ähnliches.« Er zuckte die Achseln.

»Warum arbeiten sie denn nicht?«, fragte Sally aufsässig.

»An diesen Gedanken sind sie nicht gewöhnt«, antwortete Sandman. Sally wiederholte diesen Satz stumm, was Sandman zum Lachen brachte. »Das alles ist vor über einem Jahr passiert, damals hatte ich die Armee bereits verlassen«, erzählte er. »Ich stand kurz vor meiner Heirat. Wir hatten schon ein Haus in Oxfordshire ausgesucht, aber nachdem ich mittellos wurde, konnte sie mich natürlich nicht mehr heiraten.«

»Wieso denn nicht?«, fragte Sally.

»Weil ihre Mutter nicht zulässt, dass sie einen armen Schlucker heiratet.«

»War sie denn auch arm?«, »Im Gegenteil«, sagte Sandman, »ihr Vater hatte versprochen, ihr sechstausend im Jahr auszusetzen. Mein Vater hatte mir mehr versprochen, aber nachdem er bankrott war …« Sandman zuckte die Achseln, ohne den Satz zu beenden.

Sally starrte ihn aus großen Augen an. »Sechstausend?«, fragte sie. »Pfund?« Das letzte Wort hauchte sie nur, da sie derartigen Reichtum gar nicht fassen konnte.

»Pfund«, bestätigte Sandman.

»Verdammt!« Für eine Weile verschlug es ihr den Atem, bis ihr Hunger sich wieder meldete und sie weiter aß. »Erzählen Sie weiter.«

»Ich blieb also einige Zeit bei meiner Mutter und meiner Schwester, aber auf Dauer ging es nicht. Da es in Winchester keine Arbeit für mich gab, kam ich vor einem Monat nach London.«

Das fand Sally lustig. »Sie haben wohl noch nie in Ihrem Leben richtig gearbeitet, was?«

»Ich war ein guter Soldat«, erklärte Sandman schlicht.

»Ich schätze, das ist auch Arbeit«, gestand Sally ihm widerstrebend zu, »gewissermaßen.« Sie jagte in der Schüssel hinter einem Hühnerbein her. »Aber was wollen Sie jetzt machen?«

Sandman schaute an die verräucherte Zimmerdecke. »Einfach arbeiten«, sagte er unbestimmt. »Ich habe nichts gelernt. Ich bin kein Anwalt, kein Priester. Ich habe zwei Trimester am Winchester College studiert«, bei der Erinnerung schauderte ihn, »ich dachte, ich könnte es in London bei einem Kaufmann versuchen. Wissen Sie, sie stellen Leute als Aufseher für ihre Ländereien an. Tabak- und Zuckerplantagen.«

»In Übersee?«

»Ja«, sagte Sandman leise. Man hatte ihm tatsächlich eine solche Stelle auf einer Zuckerrohrplantage auf Barbados angeboten, da er aber wusste, dass er dort Sklaven beaufsichtigen müsste, hatte er abgelehnt. Seine Mutter hatte ihn deshalb als willensschwach beschimpft, aber Sandman war mit seiner Entscheidung zufrieden.

»Sie brauchen aber doch gar nicht nach Übersee zu gehen, wenn Sie für das Innenministerium arbeiten«, wandte Sally ein.

»Ich fürchte, diese Anstellung ist nur sehr vorübergehend.«

»Leute in letzter Minute vor dem Galgen zu bewahren? Das ist doch nicht vorübergehend! Wenn Sie mich fragen, ist das eine Dauerbeschäftigung.« Sie knabberte das Hähnchenfleisch vom Knochen. »Glauben Sie, dass Sie Charlie aus dem Bau holen können?«

»Kennen Sie ihn?«

»Habe ihn einmal gesehen«, sagte sie mit vollem Mund, »der fette Sir George hat Recht. Er ist andersrum.«