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»Andersrum? Ach, ich verstehe. Und glauben Sie, dass er unschuldig ist?«

»Na klar ist er unschuldig«, erklärte sie mit Nachdruck.

»Er wurde vom Gericht für schuldig befunden«, wies Sandman sie behutsam zurecht.

»Etwa in Old Bailey? Wer war denn der Richter?«

»Sir John Silvester.«

»Zum Teufel! Der schwarze Jack?« Sally wurde wild. »Er ist ein Schwein. Ich sage Ihnen, Captain, wegen dem schwarzen Jack liegen Dutzende unschuldige Seelen im Grab. Und Charlie ist unschuldig. Er muss unschuldig sein. Er ist doch vom anderen Ufer. Er würde gar nicht wissen, was er mit einer Frau anfangen sollte, von Vergewaltigung gar nicht erst zu reden! Wer immer sie umgebracht hat, hat sie ordentlich verdroschen, und für so was hat Charlie gar nicht genug Fleisch auf den Knochen. Sie haben ihn doch gesehen, oder? Sieht er aus, als ob er ihr die Kehle durchschneiden könnte? Was steht denn da?« Sie deutete auf die billige Flugschrift, die Sandman aus der Tasche gezogen und auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Oben links befand sich ein schlecht gedrucktes Bild, das die bevorstehende Hinrichtung Charles Cordays darstellen sollte und einen Mann in Kapuze auf einem Karren unter dem Galgen zeigte. »Dieses Bild nehmen sie immer«, sagte Sally. »Ich wünschte, sie würden sich mal ein Neues suchen. Der Karren wird ja gar nicht mehr benutzt. Hau ab, Mann!«, fuhr sie einen gut gekleideten Herrn an, der zu ihr getreten war, sich verbeugt hatte und etwas sagen wollte. Erschrocken wich er zurück. »Ich weiß, was er will«, erklärte Sally.

Ihr Ausbruch hatte Sandman zum Lachen gebracht, aber nun betrachtete er wieder die Flugschrift. »Nach dem, was hier steht, war die Countess nackt, als man sie fand. Nackt und blutüberströmt.«

»Sie wurde doch erstochen, oder?«

»Hier steht, dass Cordays Messer in ihrer Kehle steckte.«

»Damit hätte er sie gar nicht erstechen können«, tat Sally diese Darstellung ab, »das ist nicht scharf. Es ist ein, ich weiß nicht, wie man das nennt. Es ist, um die Farben zu mischen, nicht zum Schnibbeln.«

»Schnibbeln?«

»Schneiden.«

»Es ist also ein Palettenmesser«, sagte Sandman. »Aber hier steht, sie wurde zwölf Mal in die …«Er stockte.

»In die Titten gestochen«, sagte Sally. »Das schreiben sie immer, wenn es um eine Frau geht. Die Stiche treffen nie woanders. Immer in die Brust.« Sie schüttelte den Kopf. »Für mich hört sich das nicht nach einer Schwuchtel an. Warum sollte er sie ausziehen, geschweige denn vergewaltigen? Möchten Sie noch Salat?« Sie schob ihm die Schüssel hin.

»Nein, bitte, Sie können ihn aufessen.«

»Ich könnte ein ganzes Pferd verschlingen.« Sie schob ihren Teller beiseite und stellte einfach die Schüssel vor sich hin. »Nein«, sagte sie nach kurzem Überlegen, »er hat es nicht getan, oder?« Stirnrunzelnd hielt sie inne. Sandman spürte, dass sie mit sich kämpfte, ob sie ihm etwas sagen sollte, aber er besaß genügend Verstand zu schweigen. Sie schaute zu ihm auf, als wolle sie abschätzen, ob sie ihn mochte oder nicht, und zuckte schließlich die Achseln. »Er hat Sie angelogen«, sagte sie leise.

»Corday?«

»Nein! Sir George! Er hat gelogen. Ich habe gehört, wie er Ihnen erzählt hat, dass der Earl das Bild haben wollte, aber das stimmt nicht.«

»Nicht?«

»Sie haben gestern darüber geredet«, erklärte Sally ernst. »Er und ein Freund, aber er glaubte, ich hörte nicht zu. Ich stehe da und hole mir einen Schnupfen, und er redet, als ob ich nichts anderes wäre als ein Stück Fleisch.« Sie schenkte sich Bier nach. »Es war nicht der Earl, der das Bild bestellt hat. Sir George hat es seinem Freund erzählt, wirklich, und dann hat er mich angeguckt und gesagt: ›Du hast nichts gehört, Sally Hood.‹ Das hat er wirklich gesagt.«

»Hat er gesagt, wer das Bild in Auftrag gegeben hat?«

Sally nickte. »Es war ein Club, der das Bild bestellt hat, aber wenn er wüsste, dass ich Ihnen das erzählt habe, würde er fuchsteufelswild, er hat nämlich eine Todesangst vor den Kerlen.«

»Ein Club hat es bestellt?«

»So ein Club für feine Herren. So was wie Boodles oder Whites; aber die sind es nicht, er hatte so einen komischen Namen. Sephamore Club? Nein, das stimmt nicht. Sema? Serra? Ich weiß es nicht. Es hatte was mit Engeln zu tun.«

»Engel?«

»Engel«, bestätigte Sally. »Sephamore? So was Ähnliches.«

»Seraphim?«

»Genau!« Sie war stark beeindruckt, dass Sandman den richtigen Namen gefunden hatte. »Seraphim Club.«

»Davon habe ich noch nie gehört.«

»Er soll ganz geheim sein«, sagte Sally. »Ich meine, richtig geheim! Es ist nicht weit von hier. Am St. James’ Square, sie müssen also Geld haben. Zu reich für meinen Geschmack.«

»Wissen Sie etwas darüber?«

»Nicht viel«, sagte sie. »Man hat mich mal gefragt, ob ich mit hingehe, aber das habe ich natürlich nicht gemacht, so eine bin ich nicht.«

»Aber warum sollte der Seraphim Club das Porträt der Countess haben wollen?«, fragte Sandman.

»Weiß der Himmel.«

»Ich werde sie danach fragen müssen.«

Sally schaute erschrocken drein. »Aber sagen Sie ihnen bloß nicht, dass Sie es von mir haben! Sir George bringt mich um! Und schließlich brauche ich doch die Arbeit.«

»Ich sage ihnen nichts von Ihnen«, versprach er ihr. »Außerdem glaube ich nicht, dass sie die Countess umgebracht haben.«

»Und wie wollen Sie herauskriegen, wer es war?«, fragte Sally.

Das war eine gute Frage, fand Sandman und gab ihr eine ehrliche Antwort. »Ich weiß es nicht. Als der Innenminister mich bat, den Fall zu untersuchen, dachte ich, ich brauchte nur nach Newgate zu gehen und ein paar Fragen zu stellen. Ähnlich wie ich es bei meinen Soldaten gemacht habe. Aber es ist ganz anders. Ich muss die Wahrheit herausfinden und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. So etwas habe ich noch nie gemacht. Ich kenne auch niemanden, der Erfahrung damit hätte. Also werde ich wohl Fragen stellen müssen, oder? Ich spreche mit allen, frage sie, was mir gerade einfällt, und hoffe, dass ich die Zofe auftreibe.«

»Welche Zofe?«

Sandman erzählte ihr von Meg und von seinem Besuch in der Mount Street, wo man ihm gesagt hatte, dass alle Dienstboten fort seien. »Sie könnten im Landhaus des Earl sein oder sie wurden einfach entlassen«, sagte er.

»Fragen Sie die Dienstboten«, sagte Sally. »Fragen Sie alle anderen Dienstboten in der Straße oder den umliegenden Straßen. Einer von ihnen kennt sie bestimmt. Meine Güte, ist es schon so spät?« Eine Uhr in der Schänke hatte gerade zwei geschlagen. Sally nahm ihren Mantel, schnappte sich das letzte Stück Brot und lief los.

Sandman blieb sitzen und las noch einmal die Flugschrift durch. Sie sagte ihm sehr wenig, gab ihm aber Zeit nachzudenken.

Und er begann sich zu fragen, warum ein Geheimclub, ein sehr geheimer Club mit engelhaftem Namen, eine Dame der Gesellschaft nackt malen lassen wollte.

Es war Zeit, es herauszufinden, beschloss er. Es war Zeit, die Seraphim zu besuchen.

3

Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft fühlte sich schmierig an, und das Pflaster der St. James Street glitzerte wie poliert. Der kalte Wind drückte Rauch aus unzähligen Schornsteinen in die Straßen und wirbelte Ruß und Asche umher wie schwarzen Schnee. Zwei vornehme Kutschen ratterten den Hügel hinauf, vorbei an einer dritten, die ein Rad verloren hatte. Einige Männer waren mit guten Ratschlägen zur Stelle, was mit dem schräg stehenden Gefährt zu machen sei, während der Kutscher die Pferde, ein lebhaftes Gespann Brauner, hin und her führte. Zwei Betrunkene in modischer Kleidung stützten sich gegenseitig, als sie sich vor einer Frau verbeugten, die ebenso elegant gekleidet war wie ihre Bewunderer und mit einem zusammengeklappten Schirm über den Bürgersteig schlenderte. Sie ignorierte die Betrunkenen ebenso wie die obszönen Angebote, die man ihr von den Fenstern der Herrenclubs zurief. Sie war keine Dame, vermutete Sandman, denn keine anständige Dame würde je durch die St. James’ Street gehen. Sie bedachte ihn mit einem unverfrorenen Blick, als er ihr entgegenkam, worauf er lediglich die Hand zum Gruß an den Hut hob, ihr auf dem Gehsteig Platz machte und weiterging. »Die ist wohl zu heiß für dich, was?«, rief ein Mann Sandman von einem Fenster aus zu.