Sandman überhörte den Zuruf. Denk nach, sagte er sich, denk nach. Zu diesem Zweck blieb er an der Ecke der King Street stehen und schaute auf St. James’ Palace, als erhoffe er von seinen altehrwürdigen Mauern eine Eingebung.
Warum ging er zum Seraphim Club, fragte er sich. Wenn Sally Recht hatte, kam der Auftrag für das Porträt von ihnen, aber was hatte das schon zu bedeuten? Sandman vermutete allmählich, dass dieses Gemälde gar nichts mit dem Mord zu tun hatte. Wenn Corday die Wahrheit sagte, war der Mörder höchstwahrscheinlich die Person, die den Maler bei seiner Arbeit unterbrochen hatte, als sie an der Hintertür klopfte. Sandman hatte allerdings nicht die geringste Ahnung, wer das gewesen sein könnte. Weshalb ging er also zum Seraphim Club? Die geheimnisvollen Clubmitglieder hatten die Ermordete offenbar gekannt, hatten viel Geld für ein Porträt von ihr ausgegeben, das die Dame ohne ihr Wissen nackt zeigen sollte, was vermuten ließ, dass ein Clubmitglied entweder ihr Liebhaber war oder von ihr als Liebhaber abgewiesen wurde, und Liebe war ebenso wie Zurückweisung ein Weg zum Hass, Hass führte zum Mord, und dieser Gedankengang brachte Sandman zu der Überlegung, ob das Gemälde nicht doch etwas mit dem Mord zu tun hatte. Es war alles überaus verwirrend, und da es ihn kein Stück weiterbrachte, hier zu stehen und nachzudenken, ging er weiter.
Von außen ließ nichts erkennen, wo sich der Seraphim Club befand, aber ein Straßenkehrer wies Sandman den Weg zu einem Haus mit geschlossenen Fensterläden an der Ostseite des Platzes. Als Sandman den Platz überquerte, sah er eine vierspännige Kutsche am Bordstein vor dem Club stehen. Sie war dunkelblau und hatte auf den Türen rote Wappen mit fliegenden Engeln in goldenen Gewändern. Offensichtlich hatte die Kutsche gerade einen Fahrgast aufgenommen, denn sie fuhr an, als Sandman an die glänzend blau lackierte Tür trat, die kein Namensschild aufwies. Eine vergoldete Kette hing an der flachen Wange des Türrahmens.
Als Sandman daran zog, hörte er tief im Inneren des Gebäudes eine Glocke anschlagen. Gerade wollte er ein zweites Mal läuten, als er einen Lichtschimmer in der Mitte der Tür bemerkte und sah, dass sich dort ein Guckloch befand. Er vermutete, dass jemand ihn beäugte, und hielt dem Blick stand, bis er hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Ein zweiter Riegel schabte, dann wurde ein Schloss entriegelt und schließlich öffnete ein Diener in wespenhaft schwarz-gelber Livree zögernd die Tür. Er musterte Sandman. »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht im Haus geirrt haben, Sir?«, fragte er nach einer Weile. In diesem »Sir« lag keinerlei Respekt, es war lediglich eine Floskel.
»Ist das der Seraphim Club?«
Der Diener zögerte. Er war groß, bis auf ein oder zwei Jahre im gleichen Alter wie Sandman und hatte ein von der Sonne gegerbtes, von Gewalt zernarbtes und von Erfahrung gehärtetes Gesicht. Ein brutaler, aber gut aussehender Mann, der Kompetenz ausstrahlte, fand Sandman. »Dies ist ein Privathaus, Sir«, erklärte der Diener bestimmt.
»Das, wie ich annehme, dem Seraphim Club gehört, mit dem ich zu sprechen habe«, sagte Sandman barsch. Er schwenkte das Schreiben des Innenministers. »Im ministeriellen Auftrag«, fügte er hinzu und trat an dem Diener vorbei in die hohe, elegante und teure Eingangshalle, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Boden bestand aus glänzenden schwarzen und weißen Marmorfliesen im Schachbrettmuster, auch der Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte, war mit Marmor eingefasst und schloss mit einem Sims ab, der mit vergoldeten Cherubim, Blumenranken und Akanthusblättern verziert war. Im Treppenhaus hing ein Kronleuchter mit mindestens hundert frischen Kerzen. Finstere Gemälde hingen an den Wänden. Mit einem flüchtigen Blick erkannte Sandman Landschaften und Seestücke, aber nicht ein Aktgemälde.
»Hier hat kein Ministerium etwas zu suchen, Sir, rein gar nichts«, sagte der große Diener. Er schien überrascht, dass Sandman es gewagt hatte, an ihm vorbeizugehen, und hielt tadelnd die Tür auf als Aufforderung an Sandman, wieder zu gehen. Zwei weitere Diener, beide groß und in der gleichen schwarz-gelben Livree, waren aus einem Nebenraum gekommen, um den unerwünschten Besucher zum Verlassen des Hauses zu bewegen.
Sandman musterte die beiden Neuankömmlinge und den größeren Diener, der die Tür hielt, und bemerkte, dass das gut geschnittene Gesicht des Mannes von winzigen Narben auf der rechten Wange entstellt war. Die meisten würden sie gar nicht wahrgenommen haben, da sie kaum mehr waren als dunkle Flecke unter der Haut, aber Sandman hatte die Angewohnheit, auf Verbrennungen von Schießpulver zu achten. »Welches Regiment?«, fragte er den Mann. In der Miene des Dieners zuckte ein flüchtiges Lächeln auf. »First Foot Guards, Sir.«
»Ich habe neben Ihnen in Waterloo gekämpft«, sagte Sandman, steckte das Schreiben in die Tasche, zog sich den nassen Mantel und Hut aus und legte beides auf einen vergoldeten Stuhl. »Vermutlich haben Sie Recht, dass kein Ministerium hier etwas zu suchen hat«, bestätigte er dem Mann, »aber ich denke, das muss ich von einem leitenden Mitglied des Clubs hören. Gibt es einen Sekretär? Einen Präsidenten? Ein Komitee?« Sandman zuckte die Achseln. »Entschuldigen Sie, aber Ministerien sind wie die französischen Dragoner. Wenn man sie nicht gleich beim ersten Mal vernichtend schlägt, kommen sie beim nächsten Mal nur um so stärker wieder.«
Der Diener war hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht gegenüber dem Club und seiner Verbundenheit mit einem ehemaligen Kameraden, aber seine Loyalität zum Seraphim Club behielt die Oberhand. Er ließ die Haustür los und ballte die Hände kampfbereit zur Faust. »Es tut mir Leid, Sir, aber man wird Ihnen lediglich sagen, dass Sie eine Verabredung treffen sollen«, erklärte er.
»Dann warte ich hier, bis man mir das sagt.« Sandman trat vor das kleine Kaminfeuer und wärmte sich die Hände. »Mein Name ist übrigens Sandman, und ich bin im Auftrag von Lord Sidmouth hier.«
»Sir, es ist nicht erlaubt, hier zu warten«, sagte der Diener, »aber wenn Sie vielleicht Ihre Karte in der Schale auf dem Tisch hinterlassen möchten?«
»Ich habe keine Karte«, sagte Sandman munter.
»Es ist Zeit zu gehen«, sagte der Diener. Dieses Mal nannte er Sandman nicht »Sir«, sondern kam mit erschreckender Selbstsicherheit auf den Besucher zu.
»Schon gut, Sergeant Berrigan«, schaltete sich eine ruhige Stimme von hinten ein. »Mister Sandman kann bleiben.«
»Captain Sandman«, korrigierte Sandman und drehte sich um.
Ein Stutzer, ein Geck, ein Beau stand vor ihm. Es war ein großer, ausnehmend gut aussehender junger Mann in einem schwarzen Gehrock mit Messingknöpfen, enger weißer Kniebundhose, die aussah, als sei sie auf seine Schenkel geschweißt, und glänzenden schwarzen Stiefeln. Ein steifes weißes Halstuch bauschte sich über seinem Hemd, gerahmt von einem hohen Jackenkragen, der bis an die Ohren reichte. Sein schwarzes Haar war sehr kurz geschnitten und rahmte ein blasses Gesicht, das so glatt rasiert war, dass die weiße Haut glänzte. Er hatte ein amüsiertes, kluges Gesicht und trug ein Monokel, durch das er Sandman kurz musterte, bevor er sich leicht verbeugte. »Captain Sandman«, er betonte das erste Wort leicht, »entschuldigen Sie bitte. Ich hätte Sie gleich erkennen müssen. Letztes Jahr habe ich gesehen, wie Sie Martingale und Bennett fünfzig Läufe abgejagt haben. Schade, dass wir in dieser Saison Ihr Können auf keinem der Londoner Plätze bewundern konnten. Mein Name ist übrigens Skavadale, Lord Skavadale. Kommen Sie doch bitte in die Bibliothek.« Er deutete auf das Zimmer hinter ihm. »Sergeant, wären Sie so nett, den Mantel des Captain aufzuhängen? Am Kaminfeuer des Portiers, denken Sie nicht? Und was hätten Sie gern zum Aufwärmen, Captain? Kaffee? Tee? Glühwein? Geschmuggelten Cognac?«