Eleanor schaute ihren Vater entrüstet an. »Es geht um Dienstbotenklatsch, Papa, und darüber ist Hammond erhaben. Lizzie dagegen lebt davon.«
Sir Henry rutschte unbehaglich hin und her. »Es ist doch nicht gefährlich, oder?«, fragte er Sandman.
»Das kann ich mir nicht vorstellen, Sir. Wie Eleanor ganz richtig sagt, möchten wir lediglich wissen, wo die Zofe Meg ist, und das ist bloß Klatsch.«
»Lizzie kann ihre Frage ja damit erklären, dass einer unserer Kutscher ein Auge auf sie geworfen hat«, sagte Eleanor begeistert. Ihr Vater war nicht glücklich bei dem Gedanken, Eleanor in diese Geschichte hineinzuziehen, aber er war nahezu unfähig, seiner Tochter etwas abzuschlagen. Sie war sein einziges Kind, und er liebte sie so sehr, dass er ihr vielleicht sogar erlaubt hätte, Sandman trotz seiner Armut und der Schande seiner Familie zu heiraten, wenn Lady Forrest nicht andere Vorstellungen gehabt hätte. Eleanors Mutter hatte Rider Sandman immer nur als zweitbeste Wahl angesehen. Als die Verlobung stattfand, hatte Sandman zwar Aussichten auf erheblichen Wohlstand, der ihn in Lady Forrests Augen knapp zu einem passablen Schwiegersohn gemacht hätte, aber ihm fehlte das eine, was sie sich mehr als alles andere für ihre Tochter wünschte. Er hatte keinen Titel, und Lady Forrest träumte davon, dass Eleanor eines Tages Duchess, Marchioness, Countess oder zumindest eine Lady wäre. Sandmans plötzliche Mittellosigkeit hatte Lady Forrest einen Vorwand geliefert, zuzuschlagen, und so sehr Sir Henry seine Tochter auch verwöhnte, kam er doch nicht gegen den festen Entschluss seiner Frau an, dass ihr Kind die adelige Herrin marmorner Treppen, ausgedehnter Ländereien und weitläufiger Ballsäle werden sollte, die groß genug für eine Gästeschar in Brigadestärke wären.
Wenn Eleanor also schon nicht den Mann heiraten durfte, den sie wollte, würde er ihr wenigstens erlauben, ihre Zofe den Klatsch und Tratsch der Mount Street aufschnappen zu lassen. »Ich werde dir schreiben«, sagte Eleanor zu Sandman. »Wohin?«
»In das Wheatsheaf in der Drury Lane«, sagte Sandman.
Eleanor stand auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Vater auf die Wange. »Danke, Papa.«
»Wofür?«
»Weil du mich etwas Nützliches tun lässt, auch wenn es nur darin besteht, Lizzies Hang zu Tratsch zu fördern, und dir ebenfalls danke, Rider.« Sie schüttelte ihm die Hand. »Ich bin stolz auf dich.«
»Ich hoffe, das warst du immer schon.«
»Natürlich, aber es ist eine gute Sache, die du machst.« Sie hielt immer noch seine Hand, als die Tür aufging.
Lady Forrest kam herein. Sie hatte ebenso rotes Haar, war ebenso schön und ebenso willensstark wie ihre Tochter, auch wenn Eleanor die grauen Augen und die Intelligenz von ihrem Vater hatte. Lady Forrest machte große Augen, als sie sah, dass ihre Tochter Sandmans Hand hielt, aber sie rang sich ein Lächeln ab. »Captain Sandman«, begrüßte sie ihn in einem Ton, der Glas hätte zerschneiden können, »was für eine Überraschung.«
»Lady Forrest.« Sandman gelang es, sich trotz seiner gefangenen Hand zu verbeugen.
»Was machst du hier, Eleanor?« Lady Forrests Ton war nur knapp über dem Gefrierpunkt.
»Ich lese Rider aus der Hand, Mama.«
»Ach!« Lady Forrest war auf der Stelle fasziniert. Sie fürchtete die unpassende Zuneigung ihrer Tochter zu einem Habenichts, fühlte sich aber magisch zu der Idee übernatürlicher Kräfte hingezogen. »Mir will sie nie aus der Hand lesen«, sagte Lady Forrest. »Sie weigert sich. Also, was siehst du?«
Eleanor tat, als prüfe sie aufmerksam Sandmans Hand. »Ich sehe eine Reise.«
»Etwas Angenehmes, hoffe ich?«, sagte Lady Forrest.
»Nach Schottland«, sagte Eleanor.
»Um diese Jahreszeit kann es dort sehr schön sein«, stellte Lady Forrest fest.
Sir Henry war scharfsichtiger als seine Frau und erkannte darin einen drohenden Hinweis auf Gretna Green. »Es reicht, Eleanor«, sagte er ruhig.
»Ja, Papa.« Eleanor ließ Sandmans Hand los und knickste vor ihrem Vater.
»Was führt Sie her, Rider …« Fast hätte Lady Forrest sich vergessen, berichtigte sich aber schnell. »Captain?«
»Rider hat mir freundlicherweise ein Gerücht zugetragen, dass die Portugiesen ihre kurzfristigen Anleihen möglicherweise nicht einlösen können«, antwortete Sir Henry an Sandmans Stelle. »Was mich nicht überrascht, muss ich sagen. Wir haben von der Konversion abgeraten, wie du dich sicher erinnerst, meine Liebe.«
»Ja, Lieber, gewiss.« Lady Forrest war sich ganz und gar nicht sicher, gab sich aber mit dieser Erklärung zufrieden. »So, nun komm, Eleanor«, sagte sie. »Der Tee wird serviert, und du vernachlässigst unsere Gäste. Wir haben Lord Eagleton hier«, erklärte sie Sandman stolz.
Lord Eagleton war der Mann, den Eleanor angeblich heiraten sollte. Seine Erwähnung ließ Sandman zusammenzucken. »Ich bin mit Seiner Lordschaft nicht bekannt«, sagte er steif.
»Das ist kaum verwunderlich«, erwiderte Lady Forrest. »Er verkehrt nur in den besten Kreisen. Henry, musst du hier drin rauchen?«
»Ja, ich muss«, antwortete Sir Henry.
»Ich hoffe, Sie genießen Ihre Reise nach Schottland, Captain«, sagte Lady Forrest, führte ihre Tochter hinaus und schloss die Tür gegen den Zigarrenrauch.
»Schottland«, sagte Sir Henry finster und schüttelte den Kopf. »In Schottland werden nicht annähernd so viele gehenkt wie bei uns in England und Wales. Aber die Mordrate ist dort auch nicht höher, glaube ich.« Er schaute Sandman an. »Merkwürdig, finden Sie nicht?«
»Sehr merkwürdig, Sir.«
»Nun ja, ich nehme an, das Innenministerium weiß, was es tut.« Er drehte sich um und schaute brütend in den Kamin. »Es ist kein schneller Tod, Rider, ganz und gar nicht schnell, aber der Gefängnisverwalter war ungeheuer stolz auf das ganze Verfahren. Wollte unseren Beifall und bestand darauf, uns das ganze Gefängnis zu zeigen.« Sir Henry schwieg nachdenklich. »Wissen Sie, es gibt einen Korridor vom Gefängnis zum Gerichtsgebäude. Damit die Gefangenen zum Prozess nicht über die Straße gehen müssen. Vogelkäfiggang nennen sie ihn, dort werden die Gehenkten begraben. Frauen wohl auch, nehme ich an, aber das Mädchen, dessen Hinrichtung ich gesehen habe, wurde zu den Wundärzten gebracht, um aufgeschnitten zu werden.« Er hatte bisher auf die leere Feuerstelle gestarrt, aber nun schaute er zu Sandman auf. »Die Steinplatten in dem Gang wackelten, Rider, sie wackelten. Das kommt von den Gräbern darunter, die absacken. Sie hatten Fässer mit Kalk, um den Zerfall zu beschleunigen. Es war übel. Unglaublich übel.«
»Es tut mir Leid, dass Sie diese Erfahrung machen mussten«, sagte Sandman.
»Ich hielt es für meine Pflicht«, antwortete Sir Henry schaudernd. »Ich war mit einem Freund dort, er fand ein geradezu unanständiges Vergnügen an allem. Der Galgen ist gewiss notwendig, aber doch wohl nichts, woran man Gefallen finden könnte? Oder bin ich zu skrupulös?«
»Sie sind sehr hilfsbereit, Sir Henry, und ich bin Ihnen dankbar.«
Sir Henry nickte. »Es wird einen oder zwei Tage dauern, bis Sie eine Antwort bekommen, nehme ich an, aber hoffen wir, dass es hilft. Gehen Sie schon? Sie müssen unbedingt wiederkommen, Rider, kommen Sie wieder.« Er brachte Sandman in die Diele und half ihm in den Mantel.
Als Sandman ging, merkte er nicht einmal, ob es regnete.
Er dachte an Lord Eagleton. Eleanor hatte sich nicht benommen, als sei sie in Seine Lordschaft verliebt, sie hatte sogar ein eher angewidertes Gesicht gemacht, als sein Name fiel. Und das machte Sandman Hoffnung. Aber was hatte Liebe mit Ehe zu tun, fragte Sandman sich. Bei einer Heirat ging es um Geld, Land und Ansehen. Um ein Leben jenseits des wirtschaftlichen Ruins. Um den guten Ruf.
Und Liebe? Verdammt, dachte Sandman, aber er liebte.
Es regnete nicht mehr, der Spätnachmittag präsentierte sich sogar mit einem für London selten klaren Himmel. Alles wirkte klar, frisch gewaschen und unverdorben. Die Regenwolken waren nach Westen abgezogen und das vornehme London strömte auf die Straße. Offene Pferdewagen, gezogen von Gespannen mit gestriegeltem Fell und geflochtenen Mähnen, klapperten elegant zur täglichen Parade in den Hyde Park. Straßenkapellen wetteiferten miteinander, Trompeten schmetterten, Trommeln schlugen und Sammler schüttelten ihre Sammelbüchsen. Sandman nahm von alledem nichts wahr.