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»Die Countess of Avebury war meine Stiefmutter«, erklärte Carne. »Ich bin der einzige Sohn meines Vaters, sogar sein einziges Kind, und daher der Erbe seines Titels.«

»Aha«, sagte Sandman.

»Wir müssen miteinander sprechen«, sagte Carne. »Bitte, wir müssen uns unterhalten.«

Lord Alexander verbeugte sich vor Sally, wobei er tief rot wurde. Da Sandman wusste, dass er seinen Freund ein Weilchen sich selbst überlassen konnte, führte er Carne in den hinteren Teil des Schankraumes, wo sie in einer Nische recht ungestört waren.

»Wir müssen miteinander reden«, wiederholte Carne. »Mein Gott, Sandman, Sie können eine große Ungerechtigkeit verhindern. Und das müssen Sie, weiß Gott, tun.«

Also unterhielten sie sich.

Es handelte sich natürlich um Lord Christopher Carne. »Bitte, nennen Sie mich Kit«, bot er an.

Sandman war kein Radikaler. Er hatte nie die Meinung Lord Alexanders geteilt, eine auf Wohlstand und Privilegien gegründete Gesellschaftsordnung zu stürzen, aber er nannte Männer nur dann »Mylord«, wenn er sie oder ihr Amt solchen Respekts für würdig hielt. Er hegte keinen Zweifel, dass der Marquess of Skavadale dieses Zögern bemerkt hatte, ebenso wie Sandman erkannt hatte, dass der Marquess Gentleman genug war, es zu übergehen. Doch obwohl Sandman nicht bereit war, Lord Christopher Carne als Mylord anzureden, wollte er ihn auch nicht Kit nennen, daher war es besser, auf jede Anrede zu verzichten.

Sandman hörte lediglich zu. Lord Christopher Carne war ein nervöser, zögerlicher junger Mann mit dicken Brillengläsern. Er war sehr klein, hatte dünnes Haar und litt unter einem leichten Stottern. Alles in allem wirkte er durchaus nicht einnehmend, besaß aber eine eindringliche Art, die seine offenkundigen Schwächen ausglich. »Mein Vater ist ein grässlicher Mensch«, erklärte er Sandman, »einfach grässlich.«

»Grässlich?«

»Es ist, als seien die zehn Gebote eigens aufgestellt, um ihn herauszufordern, Sandman. Besonders das siebte Gebot!«

»Ehebruch?«

»Gewiss. Er beachtet es einfach nicht, Sandman!« Lord Christophers Augen hinter den dicken Brillengläsern weiteten sich und er errötete, als sei allein schon der Gedanke an Ehebruch ein Gräuel und die Nennung dieses Wortes eine Schande. Wie Sandman auffiel, trug er einen gut geschnittenen Rock und ein feines Hemd, aber an beiden wiesen die Manschetten Tintenflecke auf, die auf eine Vorliebe für Bücher hindeuteten. Lord Christopher fühlte sich unter Sandmans prüfendem Blick offenkundig unbehaglich. »Ich m-meine, wie jeder gewohnheitsmäßige Sünder nimmt mein Vater Anstoß daran, wenn man sich gegen ihn versündigt.«

»Ich verstehe nicht.«

Lord Christopher blinzelte. »Er hat mit den Frauen vieler Männer gesündigt, Captain Sandman«, erklärte er verlegen, »aber als seine eigene Frau ihm untreu war, wurde er wütend.«

»Ihre Stiefmutter?«

»Genau. Er drohte, sie zu töten! Ich habe es selbst gehört.«

»Die Drohung, jemanden zu töten, ist nicht dasselbe, wie tatsächlich zu töten«, stellte Sandman fest.

»Der Unterschied ist mir klar«, erwiderte Lord Christopher überraschend scharf, »aber ich habe mit Alexander gesprochen, und wie er mir sagt, haben Sie eine Verpflichtung gegenüber dem Maler Cordell übernommen?«

»Corday.«

»Genau, und ich kann einfach nicht glauben, dass er es getan hat! Welchen Grund sollte er haben? Aber mein Vater, Sandman, mein Vater hatte Grund dazu.« Lord Christopher sprach mit ungestümer Vehemenz, beugte sich sogar vor und packte Sandmans Handgelenk, während er diese Beschuldigung vorbrachte. Als ihm sein Tun klar wurde, ließ er Sandman errötend los. »Sie verstehen es vielleicht besser, wenn ich Ihnen etwas mehr über meinen Vater erzähle«, fuhr er gemäßigter fort.

Die Geschichte war bald erzählt. Die erste Frau des Earl, Lord Christophers Mutter, stammte aus einer Adelsfamilie und war, wie Lord Christopher beteuerte, eine Heilige. »Er behandelte sie schändlich, Sandman, erniedrigte, misshandelte und beschimpfte sie, aber sie ertrug es in christlicher Demut, bis sie starb. Das war 1809. Gott sei ihrer lieben Seele gnädig.«

»Amen«, fügte Sandman fromm hinzu.

»Er trauerte kaum um sie«, empörte sich Lord Christopher, »er holte sich einfach weiter Frauen ins Bett, darunter auch Celia Collett. Sie war fast noch ein Kind, Sandman, er war drei Mal so alt wie sie. Aber er war von ihr besessen.«

»Celia Collett?«

»Meine Stiefmutter, und sie war schlau, Sandman, sehr schlau.« In seinem Ton lag wieder jene Wildheit. »Sie war Tänzerin im Sans Pareil. Kennen Sie es?«

»Ich habe davon gehört«, sagte Sandman zurückhaltend. Das Sans Pareil auf dem Strand war eines der neuen Theater, die ihr Publikum mit Tanz und Gesang unterhielten. Wenn Celia, die Countess of Avebury, dort auf der Bühne gestanden hatte, musste sie schön gewesen sein.

»Sie wehrte seine Avancen ab«, nahm Lord Christopher seinen Bericht wieder auf, »sie lehnte ihn rundweg ab! Sie ließ ihn erst in ihr Bett, nachdem er sie geheiratet hatte, und dann führte sie ihn an der Nase herum, Sandman! Ich sage nicht, dass er es nicht verdient hätte, denn das hatte er, aber sie nahm alles Geld, das sie bekommen konnte, und nutzte es, um ihm Hörner aufzusetzen.«

»Sie mochten sie offensichtlich nicht?«, stellte Sandman fest.

Lord Christopher wurde erneut rot. »Ich kannte sie kaum«, erklärte er unbehaglich, »aber was hätte man an ihr schon mögen sollen? Die Frau besaß keinen Glauben, kaum Manieren und so gut wie keine Bildung.«

»Machte Ihr Vater – macht Ihr Vater sich etwas aus Glauben, Manieren oder Bildung?«, fragte Sandman.

Lord Christopher runzelte die Stirn, als habe er die Frage nicht verstanden, schließlich nickte er. »Sie haben ihn richtig erfasst. Mein Vater macht sich nicht das Geringste aus Gott, Büchern und Anstand. Er hasst mich, Sandman, und wissen Sie warum? Weil der Familienbesitz als Erbgut an mich geht, das hat sein Vater veranlasst, sein eigener Vater!« Lord Christopher klopfte auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Sandman schwieg, aber er verstand durchaus, dass die Umwandlung in ein Erbgut für den gegenwärtigen Earl of Avebury eine schwere Beleidigung darstellte, da sein Vater, Lord Christophers Großvater, aus Misstrauen gegenüber seinem Sohn dafür gesorgt hatte, dass er keine Verfügungsgewalt über das Familienvermögen bekam. Der jetzige Earl konnte zwar vom Ertrag des Gutes leben, aber Kapital, Land und Investitionen wurden von Treuhändern verwaltet, bis sie alles nach seinem Tod Lord Christopher übergeben würden. »Er hasst mich«, wiederholte Lord Christopher, »und zwar nicht nur wegen des Erbgutes, sondern auch weil ich den Wunsch geäußert habe, Priester zu werden.«

»Den Wunsch?«, fragte Sandman.

»Das ist kein Schritt, den man leichtfertig tun darf«, erklärte Lord Christopher streng.

»Wahrhaftig nicht«, bestätigte Sandman.

»Und mein Vater weiß, wenn er stirbt und das Familienvermögen an mich fällt, wird es zum Dienste Gottes verwendet. Das ärgert ihn.«

Sandman fand, dass das Gespräch von Lord Christophers Anschuldigung, sein Vater habe den Mord begangen, recht weit abgekommen war. »Ich nehme an, es handelt sich um ein beträchtliches Vermögen«, fragte er vorsichtig.

»Sehr beträchtlich«, bestätigte Lord Christopher gleichmütig.

Sandman lehnte sich zurück. Gelächter hallte durch die mittlerweile volle Schänke, die Gäste mieden jedoch instinktiv die Nische, in der Sandman und Lord Christopher sich so ernsthaft unterhielten. Lord Alexander starrte Sally mit hündischer Ergebenheit an, ohne die Männer zu bemerken, die ihre Aufmerksamkeit zu erregen suchten. Sandman schaute wieder den kleinen Lord Christopher an. »Ihre Stiefmutter führte ein großes Haus in der Mount Street«, stellte er fest. »Was ist aus den Dienstboten geworden?«

Lord Christopher blinzelte, als habe ihn diese Frage überrascht. »Ich habe keine Ahnung.«