»Sind sie auf dem Landsitz Ihres Vaters?«
»Schon möglich.« Lord Christopher klang skeptisch. »Wieso fragen Sie?«
Sandman zuckte die Achseln, als seien seine Fragen nicht sonderlich von Belang, in Wahrheit mochte er Lord Christopher nicht und wusste, dass seine Abneigung ebenso ungerecht und unvernünftig war wie sein Widerwille gegen Charles Corday. Lord Christopher fehlte es ebenso wie Corday an einer Eigenschaft, die Sandman in Ermangelung eines besseren Wortes nur als Mannhaftigkeit bezeichnen konnte. Er bezweifelte, dass Lord Christopher eine Schwuchtel war, wie Sally es nennen würde – die Blicke, die er Sally zuwarf, ließen auf das Gegenteil schließen –, dennoch steckte offenbar eine ärgerliche Schwäche in ihm. Sandman konnte sich diesen kleinen, belesenen Mann gut als Priester vorstellen, der von den geringfügigsten Sünden seiner Schäfchen ganz besessen wäre. Wegen seiner Abneigung gegen Lord Christopher hatte er keinerlei Verlangen, das Gespräch mit ihm in die Länge zu ziehen, und statt ihm zu erzählen, dass er von Megs Existenz erfahren hatte, erklärte er daher lediglich, er würde von den Dienstboten gern erfahren, was an dem Tag des Mordes geschehen sei.
»Wenn sie meinem Vater treu ergeben sind, werden sie Ihnen nichts sagen«, antwortete Lord Christopher.
»Wieso sollte diese Ergebenheit sie taub und stumm machen?«
»Weil er sie getötet hat!«, schrie Lord Christopher zu laut und errötete tief, sobald er bemerkte, dass er die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregt hatte. »Zumindest hat er veranlasst, dass sie getötet wurde. Er hat Gicht und kann nicht mehr weit gehen, aber er hat Männer, die ihm treu ergeben sind und tun, was er will, üble Burschen.« Er schauderte. »Sie müssen dem Innenminister sagen, dass Corday unschuldig ist.«
»Ich bezweifle, dass es viel bewirkt, wenn ich ihm das sage«, wandte Sandman ein.
»Nicht? Wieso? Wieso in Gottes Namen?«
»Lord Sidmouth ist der Ansicht, dass Cordays Schuld bereits bewiesen wurde«, erklärte Sandman, »um das Urteil zu ändern, muss ich ihm entweder den wahren Mörder mit einem Geständnis oder unwiderlegbare Beweise für Cordays Unschuld liefern. Meinungen allein genügen leider nicht.«
Lord Christopher starrte Sandman ein Weilchen schweigend an. »Das müssen Sie?«
»Natürlich.«
»Mein Gott!« Lord Christopher lehnte sich offensichtlich erstaunt und bleich zurück. »Sie haben also fünf Tage Zeit, den wahren Täter zu finden?«
»Ja.«
»Der Junge ist also verloren, nicht wahr?«
Sandman befürchtete es, wollte es aber nicht zugeben. Noch nicht. Denn es blieben ihm immer noch fünf Tage Zeit, die Wahrheit herauszufinden und damit eine Seele vor dem Galgen von Newgate zu bewahren.
Um halb fünf Uhr morgens glimmten zwei Lampen matt aus den Hoffenstern des George Inn. Über den Dächern zeigte sich eine fahle Morgendämmerung. Ein Kutscher in warmem Umhang gähnte ungeniert und schlug mit der Peitsche nach einem knurrenden Terrier, der von dem massiven Remisentor fortschlich. Sobald es geöffnet war, zogen einige Männer eine blau lackierte Postkutsche, deren Türen, Fenster, Deichsel und Ortscheit scharlachrot abgesetzt waren, auf das Hofpflaster hinaus, wo ein Junge die Öllaternen anzündete und ein halbes Dutzend Männer die Postsäcke in den Frachtraum luden. Acht Pferde, deren Atem in der kühlen Nachtluft Wölkchen bildete, wurden aus dem Stall geführt. Die beiden Postkutscher in königsblauer und roter Uniform, beide mit Donnerbüchsen und Pistolen bewaffnet, verschlossen die Ladeluke und schauten zu, wie die Pferde eingespannt wurden. »Noch eine Minute!«, rief eine Stimme. Sandman trank den glühend heißen Kaffee, den das Gasthaus den Passagieren der Postkutsche serviert hatte. Der Hauptkutscher stieg gähnend auf den Bock. »Alles einsteigen!«
Vier Passagiere fuhren mit. Sandman und ein Priester mittleren Alters nahmen die vorderen Sitze mit dem Rücken zu den Pferden ein, während ein ältliches Ehepaar sich ihnen gegenüber setzte. Es war so eng, dass ihre Knie zwangsläufig Sandmans berührten. Postkutschen waren leicht und beengt, aber doppelt so schnell wie die größeren Frachtkutschen. Mit quietschenden Angeln öffnete sich das Hoftor, der Kutscher gab dem Gespann die Peitsche und die Kutsche bog schwankend in die Tothill Street. Das Schlagen von zweiunddreißig Hufen hallte scharf von den Hauswänden wider, die Räder knarrten und rumpelten, als die Kutsche schneller wurde, aber noch bevor sie Knightsbridge erreichte, war Sandman fest eingeschlafen.
Gegen sechs Uhr wachte er auf und stellte fest, dass sie mit beträchtlicher Geschwindigkeit schwankend und holpernd durch eine Landschaft fuhren, die einem Flickenteppich aus Feldern und buschigen Hecken glich. Der Priester hatte ein Notizbuch auf dem Schoß, eine halbmondförmige Brille auf der Nase und eine Uhr in der Hand. Er schaute zu beiden Seiten aus dem Fenster, hielt Ausschau nach Meilensteinen und bemerkte, dass Sandman aufgewacht war.
»Etwas über neun Meilen in der Stunde!«, rief er aus.
»Tatsächlich?«
»Wahrhaftig!« Ein weiterer Meilenstein huschte vorüber, und der Priester stellte erneut Berechnungen in seinem Notizbuch an. »Zehn und drei im Sinn, das ist noch einmal eine halbe, minus sechzehn, zwei im Sinn. Also wirklich! Eindeutig neun und eine viertel Meile! Einmal bin ich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von elf Meilen in der Stunde gereist, aber das war 1804 in einem sehr trockenen Sommer. Sehr trocken, und die Straßen waren eben …« Die Kutsche holperte durch ein Schlagloch, schwankte heftig und schleuderte den Priester gegen Sandmans Schulter. »Völlig eben«, wiederholte er und schaute wieder aus dem Fenster. Der ältere Mann drückte ängstlich einen Koffer an seine Brust, als könnten Sandman oder der Priester sich als Diebe erweisen, obwohl Straßenräuber wie Sallys Bruder eine wesentlich größere Gefahr darstellten. Allerdings nicht heute Morgen, denn Sandman sah, dass zwei Rotwämse sie eskortierten. Diese berittenen Patrouillen rekrutierten sich aus ehemaligen Kavalleristen, die in blauen Uniformen mit roten Westen, bewaffnet mit Pistolen und Degen, die Straßen rund um London bewachten. Die beiden Wachen begleiteten die Kutsche, bis sie durch ein Dorf ratterte. Dort bogen sie zu einer Schänke ab, wo trotz der frühen Stunde bereits einige Männer in langen Kitteln vor der Tür saßen und Bier tranken.
Sandman schaute starren Blicks aus dem Fenster und genoss es, von London fort zu sein. Die Luft erschien ihm erstaunlich sauber. Ohne den beißenden Rauch der Kohlenfeuer und den durchdringenden Gestank nach Pferdeäpfeln leuchtete die Morgensonne auf sommerlichem Laub und ein gewundenes Flüsschen glitzerte unter Buchen und Erlen am Rand einer Weide, von der grasendes Vieh aufschaute, als der Kutscher in sein Horn stieß. Sie waren immer noch in der Umgebung von London, und die Landschaft war flach, aber gut entwässert. Gute Jagdgründe, dachte Sandman und stellte sich eine Fuchsjagd in dieser Gegend vor. Er spürte förmlich, wie sein Traumpferd über eine Hecke setzte, und hörte das Jagdhorn und die anschlagende Meute.
»Fahren Sie weit?«, unterbrach der Priester ihn in seinen Träumereien.
»Bis Marlborough,«
»Schöne Stadt, schöne Stadt.« Der Priester, ein Erzdiakon, hatte seine Berechnungen zur Geschwindigkeit der Kutsche aufgegeben und plauderte nun unermüdlich über seine Schwester, die er in Hungerford besuchen wollte. Sandman flocht einige höfliche Laute ein, schaute aber weiter aus dem Fenster. Die Ernte stand kurz bevor, und Roggen, Gerste und Weizen wiegten sich mit schweren Ähren im Wind. Allmählich wurde die Landschaft hügeliger, aber die Kutsche ratterte, schwankte und holperte mit gleich bleibender Geschwindigkeit weiter und wirbelte eine Staubwolke auf, die sich weißlich auf die Hecken legte. Das Posthorn kündete den Menschen warnend die nahende Kutsche an, und Kinder winkten, wenn die acht Pferde vorüberdonnerten. Ein Schmied stand mit rußgeschwärzter Lederschürze in der Tür. Eine Frau schwenkte wütend die Faust, als ihre Ziegenherde vor dem Lärm der Kutsche auseinander stob, ein Kind klapperte mit seiner Rassel in dem vergeblichem Bemühen, räuberische Eichelhäher aus einer Reihe Erbsenpflanzen zu verscheuchen, dann hallten Kettengerassel, Hufgeklapper und Rädergepolter von der schier endlosen Mauer eines großen Landgutes wider.