In einem solchen ummauerten Anwesen dürfte wohl auch der Earl of Avebury leben, überlegte Sandman, auf einem großen Landsitz, der durch Backsteinmauern, Jagdhüter und Wachen abgeschirmt war. Angenommen, der Earl weigerte sich, ihn zu empfangen? Es hieß, Seine Lordschaft lebe wie ein Einsiedler, und je weiter westlich die Reise Sandman führte, umso mehr fürchtete er, dass man ihn auf dem Landgut schlichtweg abweisen würde, aber dieses Risiko musste er eingehen. Er vergaß seine Befürchtungen, als die Kutsche eine Straße mit modernen Häusern erreichte, das Horn durchdringend erschallte und ihm klar wurde, dass sie in Reading waren, wo die Kutsche in den Hof eines Gasthauses bog, um die Pferde zu wechseln.
»Keine zwei Minuten, Gentlemen!« Die beiden Kutscher sprangen vom Bock und zogen ihre wollenen Umhänge aus, da es inzwischen wärmer wurde. »Keine zwei Minuten, und wir warten nicht auf Nachzügler, Mylords.«
Sandman und der Erzdiakon erleichterten sich gemeinsam in einer Ecke des Hofes und tranken in aller Eile eine Tasse lauwarmen Tees, während die frischen Pferde eingespannt und das alte Gespann nass geschwitzt an die Tränke geführt wurde. Ein Postsack war aus dem Laderaum gezerrt und ein neuer verstaut worden, bevor die beiden Kutscher wieder auf ihren Kutschbock stiegen. »Zeit, meine Herren! Zeit!«
»Eine Minute und fünfundvierzig Sekunden!«, rief ein Mann von der Gasthaustür. »Gut gemacht, Josh! Gut gemacht, Tim!«
Das Horn ertönte, die frischen Pferde spitzten die Ohren, und Sandman zog die Kutschentür zu und wurde auf den rückwärtigen Sitz geschleudert, als das Gefährt schwungvoll anfuhr. Das ältere Paar war ausgestiegen, an ihrer Stelle saß mm eine Dame mittleren Alters, die sich bereits nach einer Meile zum Fenster hinaus erbrach. »Verzeihen Sie«, stöhnte sie.
»Das Schwanken ist ganz ähnlich wie auf einem Schiff, Madam«, stellte der Erzdiakon fest und zog ein Silberflakon aus der Tasche. »Ob ein Brandy vielleicht hilft?«
»O, gütiger Gott!«, jammerte die Frau entsetzt, reckte den Hals und erbrach sich erneut aus dem Fenster.
»Die Federung ist recht weich«, erklärte der Erzdiakon.
»Und die Straße ist sehr holperig«, fügte Sandman hinzu.
»Besonders bei einer Geschwindigkeit von achteinhalb Meilen in der Stunde.« Der Erzdiakon machte sich wieder mit Taschenuhr und Stift zu schaffen und mühte sich, trotz des Schaukelns lesbare Ziffern zu schreiben.
Sandmans Laune besserte sich mit jeder Meile. Er war glücklich, wie ihm schlagartig auffiel, obwohl er nicht recht wusste, wieso. Vielleicht war es der Umstand, dass er wieder eine Aufgabe, eine ernsthafte Aufgabe im Leben hatte, vielleicht lag es aber auch daran, dass er Eleanor gesehen hatte und, wie er fand, nichts in ihrem Verhalten auf eine bevorstehende Heirat mit Lord Eagleton hindeutete.
Lord Alexander Pleydell hatte sich am Abend zuvor in der gleichen Richtung geäußert, obwohl er meist Sally Hood angehimmelt hatte, die allerdings von der Erinnerung an Sergeant Berrigan abgelenkt zu sein schien. Nicht dass es Lord Alexander aufgefallen wäre. Ihn hatte Sally ebenso wie Lord Christopher Carne so fasziniert, dass die beiden Aristokraten sie fast den ganzen Abend nur mit offenem Mund angestarrt und gelegentlich einen Gemeinplatz gestammelt hatten, bis Sandman Lord Alexander schließlich ins Hinterzimmer geführt hatte. »Ich muss mit dir reden«, hatte er ihm gesagt.
»Ich möchte mich weiter mit Miss Hood unterhalten«, hatte Lord Alexander sich aus Sorge beschwert, dass sein Freund Kit nun freie Bahn bei Sally hatte.
»Das sollst du auch«, versicherte Sandman ihm, »aber zuerst sprichst du bitte mit mir. Was weißt du über den Marquess of Skavadale?«
»Erbe des Dukedom of Ripon«, antwortete Lord Alexander auf Anhieb, »stammt aus einer der alten katholischen Familien Englands. Kein besonders kluger Mann, und Gerüchten zufolge steckt seine Familie in Geldnöten. Früher waren sie einmal sehr reich und besaßen Ländereien in Cumberland, Yorkshire, Cheshire, Hertfordshire, Kent und Sussex, aber da Vater und Sohn beide Spieler sind, könnte an den Gerüchten durchaus etwas Wahres sein. In Eton war er ein recht ordentlicher Schlagmann, kann aber nicht werfen. Wieso fragst du?«
»Und Lord Robin Holloway?«
»Jüngster Sohn des Marquess of Bleasby und ein ungemein übler Bursche, der nach seinem Vater schlägt. Hat viel Geld, keinen Verstand und hat im vergangenen Jahr einen Mann bei einem Duell getötet. Kein Kricketspieler, fürchte ich.«
»Hat er das Duell mit Degen oder Pistolen ausgetragen?«
»Degen. Es fand in Frankreich statt. Holst du Erkundigungen über den gesamten Hochadel ein?«
»Und Lord Eagleton?«
»Ein Geck, aber als linker Schlagmann recht brauchbar, er spielt gelegentlich in der Mannschaft des Viscount Barchester, ansonsten zeichnet er sich durch rein gar nichts aus. Abgesehen davon, dass er passabel Kricket spielt, ist er ein Langweiler.«
»Die Sorte Mann, die Eleanor gefallen könnte?«
Alexander starrte Sandman verwundert an. »Sei nicht albern, Rider«, antwortete er und zündete seine Pfeife an. »Sie würde ihn keine zwei Minuten ertragen!« Er runzelte die Stirn, als versuche er sich an etwas zu erinnern, aber es fiel ihm offenbar nicht ein.
»Dein Freund Lord Christopher ist überzeugt, dass sein Vater den Mord begangen hat«, sagte Sandman.
»Oder ihn begehen ließ«, warf Lord Alexander ein. »Es klingt wahrscheinlich. Kit kam zu mir, als er erfahren hatte, dass du den Fall untersuchst, was ich nur gutheißen kann. Ihm liegt ebenso wie mir daran, dass am nächsten Montag kein Unschuldiger hingerichtet wird. Darf ich jetzt gehen und mich weiter mit Miss Hood unterhalten?«
»Sag mir noch, was du über den Seraphim Club weißt.«
»Ich habe nie davon gehört, aber es klingt nach einer Vereinigung edler Kleriker.«
»Das ist es nicht, glaube mir. Hat das Wort Seraphim irgendeine besondere Bedeutung?«
Lord Alexander seufzte. »Die Seraphim gelten als die höchste Ordnung der Engel, Rider. Nach Überzeugung der Gläubigen gibt es neun Stufen: Seraphim, Cherubim, Throni, die Herrscher, die Tugenden, die Mächte, die Fürsten, die Erzengel und ganz unten die einfachen Engel. Das entspricht allerdings nicht der Glaubenslehre der Kirche von England, versichere ich dir. Das Wort Seraphim soll von einem hebräischen Wort für Schlange abstammen, was eine obskure, aber viel sagende Verbindung ist. Im Singular bedeutet Seraph eine glorreiche Kreatur mit einem Biss wie Feuer. Die Seraphim sollen zugleich auch die Schutzpatrone der Liebe sein. Ich habe keine Ahnung, warum das so ist, aber so heißt es nun einmal, ebenso wie die Cherubim die Schutzpatrone des Wissens sind. Was die anderen Chöre tun, ist mir im Augenblick entfallen. Habe ich deine Neugier befriedigt, oder soll ich meine Vorlesung fortsetzen?«
»Die Seraphim sind Engel der Liebe und des Gifts?«
»Eine grobe, aber zutreffende Zusammenfassung«, bestätigte Lord Alexander großzügig und bestand darauf, wieder in den Schankraum zu gehen, wo er sich erneut von Sally in den Bann ziehen ließ. Er blieb bis nach Mitternacht, betrank sich, redete zu viel und musste sich beim Hinausgehen von Lord Christopher stützen lassen, der kaum etwas getrunken hatte. Während Lord Alexander aus dem Wheatsheaf torkelte, beteuerte er Sally in trunkenem Nuscheln seine unsterbliche Liebe.
Als seine Kutsche fort war, fragte Sally stirnrunzelnd: »Wieso hat er mich stupide genannt?«
»Das hat er gar nicht, er hat gesagt, Sie seien der Stupor mundi, das Weltwunder«, erklärte Sandman.