»Verdammt, was ist los mit ihm?«
»Er ist von Ihrer Schönheit eingeschüchtert«, sagte Sandman, was ihr gefiel. Als er zu Bett ging, fragte er sich, wie er rechtzeitig wach werden sollte, um die Morgenpostkutsche zu erreichen, doch nun saß er hier und wurde an einem Sommertag, wie man ihn sich schöner nicht träumen konnte, durchgeschüttelt.
Die Straße führte an einem Kanal entlang, und Sandman bewunderte die bunt gestrichenen Barken, die von großen Pferden mit Bändern in der Mähne und Messingschmuck am Zaumzeug gezogen wurden. Ein Kind trieb einen Reifen über den Treidelpfad, Enten schwammen auf dem Wasser, Gott saß im Himmel und es bedurfte schon eines scharfen Auges, um zu sehen, dass nicht alles so schön war, wie es aussah. Die Reetdächer wiesen an vielen Stellen Lücken auf, und in jedem Dorf fanden sich zwei oder drei eingestürzte, überwucherte Häuser. Auf den Straßen lungerten zu viele Vagabunden herum, zu viele Bettler vor den Kirchen, und viele von ihnen waren früher Rotröcke, Schützen oder Seeleute gewesen, wie Sandman klar war. Hier gab es Elend und Not inmitten des Überflusses, das Elend steigender Preise und fehlender Arbeit. Hinter Cottages, alten Kirchen und großen Ulmen verbargen sich die Arbeitshäuser voller Flüchtlinge der Brotaufstände, die in den größeren Städten Englands aufgeflammt waren, aber dennoch war es hier atemberaubend schön. Unter rosa Heckenrosen bildete der Fingerhut ein scharlachrotes Dickicht. Sandman konnte sich an diesem Anblick gar nicht satt sehen. Er war noch keinen Monat in London, doch schon jetzt erschien ihm die Zeit zu lang.
Gegen Mittag ratterte die Kutsche über eine Steinbrücke und einen kurzen Hang hinauf in die breite Hauptstraße von Marlborough mit seinen beiden Kirchen und den geräumigen Gasthöfen. Eine kleine Menschenansammlung wartete schon auf die Postkutsche. Sandman schob sich zwischen den Leuten durch und trat unter den Torbogen der Schänke. Er fragte einen Fuhrmann, der seinen Weg kreuzte, wo er den Landsitz des Earl of Avebury finden könne. Carne Manor sei nicht weit, antwortete der Fuhrmann, nur eben über den Fluss, den Hügel hinauf bis zum Rand des Savernake. Eine halbe Stunde Fußweg, meinte er, und so ging Sandman mit knurrendem Magen südwärts auf den dichten Savernake-Wald zu.
Ihm war heiß. Er trug seinen Mantel, den er an diesem warmen Tag nicht brauchte, aber als er bei Morgengrauen aus dem Wheatsheaf aufgebrochen war, hatte er ihm gute Dienste geleistet. In einem Weiler fragte er erneut nach dem Weg und wurde auf eine gewundene Straße geschickt, die zwischen Buchenwäldern bis an die hohe Backsteinmauer von Carne Manor führte. Ihr folgte er, bis er ein Pförtnerhaus und ein schmiedeeisernes Tor erreichte, dessen steinerne Pfosten Greifskulpturen krönten. Hinter dem verschlossenen Tor führte ein von Unkraut überwucherter Kiesweg weiter. Am Pförtnerhaus hing eine Glocke, doch auf Sandmans wiederholtes Läuten antwortete niemand. Er sah auch niemanden auf dem Gutsgelände. Zu beiden Seiten der Zufahrt erstreckte sich eine Parklandschaft mit Wiesen und vereinzelten Ulmen, Buchen und Eichen, wo kein Vieh oder Rotwild weidete und das inzwischen spärliche Gras mit Kornblumen und Klatschmohn durchsetzt war. Sandman entlockte der Glocke ein letztes verlorenes Läuten. Als es im warmen Nachmittag verklang, trat er zurück und musterte die Zacken des Tores. Da sie imposant wirkten, ging er ein Stück an der Mauer entlang zurück, bis er eine Stelle fand, wo eine Ulme, die zu dicht an der Mauer wuchs, die Backsteine hochgedrückt hatte. Die Nähe des Baums zur Mauer erleichterte das Klettern. Auf der verputzten Mauerkrone hielt Sandman kurz inne, bevor er auf der anderen Seite in den Park sprang. Das Gras war hoch genug, eine Wildererfalle darin zu verstecken, daher ging er vorsichtig bis zu dem Kiesweg und wandte sich dem Haus zu, das verborgen hinter einem bewaldeten Hügel stand.
Er ging langsam und rechnete halbwegs damit, dass ein Jagdaufseher oder ein anderer Dienstbote ihn aufhalten würde, aber er sah niemanden, während er dem Weg durch einen schönen Buchhain folgte, in dessen Mitte sich eine überwucherte Lichtung mit der vermoosten Statue einer nackten Frau mit biblischem Wasserkrug auf der Schulter befand. Als Sandman den Hain durchquert hatte, sah er endlich Carne Manor eine halbe Meile entfernt liegen. Es war ein schöner Natursteinbau mit drei Spitzgiebeln und efeuumrankten Fenstern mit Mittelpfosten. Stallungen, Remise und der ummauerte Küchengarten lagen an der Westseite, während sich hinter dem Haus Rasenterassen bis an einen ruhig fließenden Bach erstreckten. Auf dem langen Weg erschien ihm seine kostspielige Reise mit einem Mal sinnlos, da der Earl im Ruf stand, wie ein Einsiedler zu leben, und man Sandman vermutlich mit der Reitgerte empfangen würde.
Seine Schritte erschienen ihm ungewöhnlich laut, als er die weite, kiesbedeckte Auffahrt vor dem Haus überquerte, auf der Kutschen wenden konnten, obwohl dichtes Unkraut, Gras und Moos erkennen ließen, dass hier nur noch selten eine Kutsche vorfuhr. Sandman ging die Stufen zum Haupteingang hinauf. Bei einer der beiden Laternen, die den Eingang flankierten, fehlte eine Glasscheibe, und auf dem Kerzenhalter thronte ein Vogelnest. Sandman zog an der Glockenkette. Als er nichts hörte, läutete er noch einmal und wartete. Die Holztür war altersgrau und fleckig vom Rost der Beschlagnägel. Bienen flogen unter das flache Vordach. Ein junger Kuckuck, der gespenstische Ähnlichkeit mit einem Falken hatte, huschte über die Auffahrt. Der Nachmittag war warm, und Sandman wünschte, er könnte seine Suche nach einem einsiedlerischen Earl aufgeben und sich im Schatten eines großen Baumes am Bachufer schlafen legen.
Ein lautes Geräusch zu seiner Rechten ließ Sandman zurücktreten. Er sah, dass ein Mann versuchte, ein Bleiglasfenster neben dem Eingang zu öffnen. Offensichtlich klemmte es, denn der Mann schlug so fest dagegen, dass Sandman glaubte, die Scheiben müssten bersten, doch schließlich gab es nach, und der Mann beugte sich heraus. Er hatte die mittleren Jahre beinahe hinter sich, war sehr blass, und sein ungekämmtes Haar ließ erkennen, dass er gerade aus tiefem Schlaf erwacht war. »Das Haus steht Besuchern nicht offen«, erklärte er.
»Das hatte ich auch nicht erwartet«, antwortete Sandman, obwohl ihm in den Sinn gekommen war, die Haushälterin, falls eine solche ihm geöffnet hätte, zu bitten, ihm die Gesellschaftsräume zu zeigen. Die meisten großen Häuser erlaubten solche Besichtigungen, doch der Earl hielt von solchem Entgegenkommen offenbar nichts. »Sind Sie Seine Lordschaft?«, fragte er.
»Sehe ich so aus?«, erwiderte der Mann gereizt.
»Ich habe geschäftlich mit Seiner Lordschaft zu sprechen«, erklärte Sandman.
»Geschäftlich? Geschäftlich?«, sagte der Mann, als habe er so etwas noch nie gehört. Unruhe schlich sich in seine bleichen Züge. »Sind Sie Anwalt?«
»Es ist eine heikle Angelegenheit«, erklärte Sandman nachdrücklich und gab damit zu verstehen, dass sie einen Dienstboten nichts anging. »Meine Name ist Captain Sandman.« Seinen Namen sagte er aus reiner Höflichkeit und als Zurechtweisung, weil man ihn nicht danach gefragt hatte.
Der Mann starrte ihn ein Weilchen an, bevor er sich ins Haus zurückzog. Sandman wartete. Die Bienen summten im Efeu, und Hausschwalben schwirrten über den überwucherten Kies, aber der Diener kam nicht wieder. Verärgert läutete Sandman erneut.
Ein Fenster an der anderen Seite des Eingangs wurde geöffnet, und derselbe Diener erschien. »Was für ein Captain?«, fragte er herrisch.
»52. Infanterieregiment«, antwortete Sandman, worauf der Diener zum zweiten Mal verschwand.
»Seine Lordschaft wünscht zu wissen, ob Sie mit dem 52. in Waterloo waren«, erklärte der Diener, als er wieder ans Fenster kam.
»Ja«, sagte Sandman.
Der Diener verschwand, doch nach einer Weile hörte Sandman, dass die Tür von innen entriegelt wurde. Endlich öffnete sie sich quietschend, und der Diener verbeugte sich flüchtig. »Wir bekommen selten Besuch«, sagte er. »Ihren Mantel und Hut, Sir? Sandman, sagten Sie?«