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»Captain Sandman.«

»Ja, Sir, hier entlang, Sir.«

Aus der dunkel vertäfelten Eingangshalle führte eine weiß lackierte Treppe unter den Porträts von Männern mit kräftigen Wangen und Rüschenhemden nach oben. Der Diener ging Sandman voraus durch einen Flur in eine lange Galerie, in deren einer Wand sich hohe Fenster mit Samtvorhängen befanden, während an der anderen große Gemälde hingen. Sandman hatte erwartet, das Haus sei ebenso ungepflegt wie der Park, aber alles war sauber und roch nach Bohnerwachs. Soweit er es im Dämmerlicht der geschlossenen Vorhänge erkennen konnte, waren die Bilder von außergewöhnlicher Qualität. Italienische Gemälde, meinte er, von Göttern und Göttinnen in Weinlauben und Schwindel erregenden Berglandschaften. Satyre verfolgten nackte Nymphen. Es dauerte ein Weilchen, bis Sandman bemerkte, dass sämtliche Gemälde Akte zeigten: Eine Galerie üppig weiblichen Fleisches. Plötzlich fiel ihm ein, wie einige seiner Soldaten ein solches Gemälde bestaunt hatten, das bei der Schlacht von Vitoria gegen die Franzosen in ihre Hände gefallen war. Ein spanischer Maultiertreiber hatte die Leinwand aus dem Rahmen geschnitten und gestohlen, um sie als wasserdichte Markise zu verwenden, und die Rotröcke hatten sie ihm für zwei Pence abgekauft, um sie als Zeltboden zu benutzen. Sandman hatte sie den neuen Besitzern für ein Pfund abgekauft und ans Hauptquartier geschickt, wo man sie als eines der vielen Meisterwerke identifizierte, die bei der Plünderung aus dem Escorial, dem Palast des Königs von Spanien, entwendet worden waren.

»Hier entlang, Sir«, unterbrach der Diener ihn in seinen Träumereien. Der Mann öffnete eine Tür und meldete Sandman an, der in diesem Moment völlig geblendet war. Der riesige Raum, in den der Diener ihn geführt hatte, lag nach Südwesten, und da die Vorhänge hier geöffnet waren, schien die Sonne hell auf einen großen Tisch. Es dauerte ein Weilchen, bis Sandman den grünen, höckerigen Tisch einzuordnen vermochte, der ihm zunächst mit Blumen oder Blütenblättern übersät schien. Sobald seine Augen sich an das Sonnenlicht gewöhnt hatten, erkannte er jedoch, dass die bunten Tupfer Zinnsoldaten waren. Tausende Zinnsoldaten standen auf dem mit grünem Stoff bedeckten Tisch, auf dem das Tal nachgebildet war, in dem die Schlacht von Waterloo stattgefunden hatte. Er staunte über die Größe dieses Modells, das mindestens dreißig Fuß lang und zwanzig Fuß breit war. An einem Nebentisch saßen zwei Mädchen mit Pinseln und Farben und malten Zinnsoldaten an. Ein Quietschen lenkte seinen Blick in das gleißende Licht eines Südfensters, wo er den Earl erblickte.

Seine Lordschaft saß in einem Rollstuhl, wie Sandmans Mutter ihn in Bath gern benutzt hatte, wenn sie sich besonders schlecht fühlte, und das Quietschen kam von den ungeölten Achsen, als ein Diener den Earl zu seinem Besucher schob.

Der Earl war nach alter Mode gekleidet, bevor Männer zu nüchternem Schwarz oder Dunkelblau übergingen. Sein Rock aus rot-blau geblümter Seide hatte weit fallende Ärmel und einen breiten Kragen mit Spitzenrüschen. Eine Allongeperücke rahmte sein altes, runzeliges Gesicht, das stark gepudert, mit Rouge und einem samtenen Schönheitsfleck auf der eingefallenen Wange versehen war. Da er nicht ordentlich rasiert war, lugten weiße Bartstoppeln aus seinen Hautfalten. »Sie fragen sich gewiss, wie die Zinnsoldaten in der Tischmitte aufgestellt werden«, wandte er sich mit schriller Stimme an Sandman.

Die Frage war Sandman noch gar nicht in den Sinn gekommen, aber nun fand er sie recht verwirrend, da der Tisch viel zu breit war, um die Mitte von den Seiten aus zu erreichen. Wäre aber jemand über das Modell gegangen, hätte er unweigerlich die aus Schwamm gefertigten Bäumchen zertreten oder die unregelmäßigen Reihen der Zinnsoldaten in Unordnung gebracht. »Wie wird es gemacht, Mylord?«, fragte Sandman. Den Earl mit »Mylord« anzureden machte ihm nichts aus, da er ein alter Mann war und die Jugend dem Alter diese Höflichkeit schuldete.

»Betty, Liebste, zeige es ihm«, befahl der Earl. Eines der Mädchen legte den Pinsel beiseite und tauchte unter den Tisch. Mit einem schabenden Geräusch hob sich ein ganzer Teil des Tales in die Höhe und saß wie ein Hut auf dem Kopf der grinsenden Betty. »Das ist ein Modell von Waterloo«, sagte der Earl stolz.

»Das sehe ich, Mylord.«

»Maddox sagt, Sie waren dort. Zeigen Sie mir, welche Position das Regiment hatte.«

Sandman ging um den Tisch und deutete auf eines der Bataillone in roten Uniformröcken auf dem Hügel oberhalb des Château de Hougoumont. »Wir standen hier, Mylord«, sagte er. Das Modell war tatsächlich außergewöhnlich. Es zeigte die beiden Armeen zu Beginn der Schlacht, bevor der blutige Kampf die Reihen gelichtet hatte und Hougoumont völlig ausgebrannt war. Sandman erkannte sogar seine eigene Kompanie und nahm an, dass die kleine Figur zu Pferd unmittelbar vor den Soldatenreihen ihn selbst darstellte. Ein seltsamer Gedanke.

»Wieso lächeln Sie?«, fragte der Earl.

»Ohne besonderen Grund, Mylord.« Sandman betrachtete wieder das Modell. »Nur war ich an diesem Tag nicht zu Pferd.«

»Welche Kompanie?«

»Grenadiere.«

Der Earl nickte: »Ich werde Sie durch einen Fußsoldaten ersetzen.« Sein Rollstuhl quietschte, als er Sandman um den Tisch folgte. Seine Lordschaft trug Seidenstrümpfe mit blauen Strumpfbändern, aber ein Fuß war bandagiert. »Sagen Sie, hat Bonaparte die Schlacht verloren, weil er den Beginn hinausgezögert hat?«

»Nein«, sagte Sandman kurz angebunden.

Der Earl bedeutete dem Diener mit einer Geste, er solle den Stuhl anhalten. Er war Sandman nun so nah, dass er mit seinen verbitterten, rot geränderten Augen zu ihm aufschauen konnte. Er war wesentlich älter, als Sandman erwartet hatte. Sandman wusste, dass die Countess noch jung war, als sie starb, und schön genug für ein Aktbild, aber ihr Mann wirkte trotz Perücke, Schminke und Spitzenrüschen uralt. Außerdem stank er nach altem Puder, ungewaschenen Kleidern und Schweiß. »Wer zum Teufel sind Sie?«, knurrte der Earl.

»Ich komme von Viscount Sidmouth, Mylord, und …«

»Sidmouth?«, fiel der Earl ihm ins Wort. »Ich kenne keinen Viscount Sidmouth. Wer zum Teufel ist Viscount Sidmouth?«

»Der Innenminister, Mylord.« Da diese Mitteilung keinerlei Reaktion hervorrief, führte Sandman weiter aus: »Früher Henry Addington, Mylord, er war Premierminister. Jetzt ist er Innenminister.«

»Also kein richtiger Lord, was?«, erklärte der Earl. »Kein Aristokrat! Ist Ihnen aufgefallen, wie diese verdammten Politiker sich zu Adeligen machen? Als ob man eine Toilette in einen Brunnen verwandelte, ha! Viscount Sidmouth? Er ist kein Gentleman. Er ist bloß ein verfluchter Politiker! Ein aufgeblasener Lügner! Ein Betrüger! Ich nehme an, er ist der erste Viscount seiner Familie?«

»Das ist wohl sicher so, Mylord«, antwortete Sandman.

»Ha! Ein Gassenaristokrat? Ein gottverdammter Schleimer! Ein gut gekleideter Dieb! Ich bin der 16. Earl.«

»Wir alle bewundern Ihre Familie, Mylord«, sagte Sandman mit einer Ironie, die dem Earl völlig entging, »aber so neu sein Adelstitel auch sein mag, komme ich doch im Auftrag des Viscount.« Er zog das Schreiben des Innenministers heraus, aber der Earl winkte ab. »Wie ich gehört habe, befinden sich die Dienstboten aus Ihrem Stadthaus nun hier, Mylord?«, fragte Sandman. Er hatte zwar nichts in dieser Richtung gehört, aber vielleicht würde diese kühne Behauptung dem Earl eine Bestätigung entlocken. »Falls dies so ist, würde ich gern mit einem von ihnen sprechen, Mylord.«

Der Earl rutschte in seinem Rollstuhl herum. »Wollen Sie etwa behaupten, dass Blücher früher gekommen wäre, wenn Bonaparte früher angegriffen hätte?«, fragte er in bedrohlichem Ton.

»Nein, Mylord.«

»Hätte er früher angegriffen, hätte er also gewonnen!«, beharrte der Earl.

Sandman betrachtete das Modell. Es war beeindruckend, überaus genau, aber völlig falsch. Vor allem war es zu sauber. Selbst am Morgen vor dem Angriff der Franzosen waren alle schmutzig, weil der größte Teil der Armee am Tag zuvor auf dem Rückweg von Quatre Bras durch tiefen Morast gewatet war und anschließend die Nacht bei ständigen Regenschauern im Freien verbracht hatte. Sandman erinnerte sich an Donner und Blitz auf der fernen Hügelkette und an den Schrecken, als einige Kavalleriepferde sich nachts losgerissen und mitten durch die durchnässten Truppen galoppiert waren.