»Warum hat Bonaparte also verloren?«, fragte der Earl verdrossen.
»Weil er seine Kavallerie ohne Unterstützung durch Fußtruppen oder Artillerie hat kämpfen lassen«, erklärte Sandman kurz und bündig. »Dürfte ich Euer Lordschaft fragen, was mit den Dienstboten aus dem Haus in der Mount Street geschehen ist?«
»Und warum gefährdete er seine Kavallerie? Sagen Sie mir das?«
»Es war ein Fehler, Mylord, wie selbst die besten Generäle ihn machen. Sind die Dienstboten hierher gekommen?«
Gereizt schlug der Earl auf die geflochtenen Armlehnen seines Rollstuhls. »Bonaparte machte keine oberflächlichen Fehler! Der Mann mag Abschaum gewesen sein, aber er war gerissener Abschaum. Also warum?«
Sandman seufzte. »Unsere Reihen waren gelichtet, wir standen auf dem abgewandten Hang des Hügels, von ihrer Seite des Tales muss es so ausgesehen haben, als seien wir geschlagen.«
»Geschlagen?« Bei diesem Wort fuhr der Earl auf.
»Ich bezweifle, dass wir überhaupt zu sehen waren«, erklärte Sandman. »Der Duke hatte den Männern befohlen sich hinzulegen, aus Sicht der Franzosen muss es ausgesehen haben, als seien wir einfach verschwunden. Die Franzosen sahen einen leeren Hügel, sicher sahen sie auch unsere Verwundeten, die sich im Hintergrund in den Wald zurückzogen, sie müssen wohl gedacht haben, wir seien alle auf dem Rückzug, also griffen sie an. Mylord, sagen Sie mir, was mit den Dienstboten Ihrer Frau ist.«
»Frau? Ich habe keine Frau. Maddox!«
»Mylord?« Der Diener, der Sandman ins Haus gelassen hatte, trat vor.
»Das kalte Hühnchen, denke ich, und etwas Champagner«, befahl der Earl und bellte Sandman an: »Wurden Sie verwundet?«
»Nein, Mylord.«
»Sie waren also dabei, als die kaiserliche Garde angriff?«
»Ich war dabei, Mylord, von den ersten Kanonenschüssen der Franzosen bis zum letzten Schuss des Tages.«
Der Earl schien zu schaudern. »Ich hasse die Franzosen«, sagte er plötzlich. »Ich verabscheue sie. Eine Rasse von Tanzmeistern, und wir haben uns in Waterloo alle Ehre gemacht, Captain, alle Ehre!«
Sandman fragte sich, wieso es eine Ehre sei, Tanzmeister zu besiegen, sagte aber nichts. Er hatte schon öfter Männer wie den Earl getroffen, die völlig von Waterloo besessen waren und jede Einzelheit der Schlacht erfahren wollten, Männer, die gar nicht genug über diesen grauenvollen Tag hören konnten. Sandman wusste, dass all diese Männer eines gemeinsam hatten: Nicht einer von ihnen war dabei gewesen. Dennoch verherrlichten sie diesen Tag, hielten ihn für den erhabensten Augenblick ihres Lebens und der britischen Geschichte. Manche hatten offenbar den Eindruck, dass die Geschichte am 18. Juni 1815 zum Stillstand gekommen sei und die Welt nie wieder eine Rivalität wie die zwischen Großbritannien und Frankreich erleben würde. Diese Rivalität hatte das Leben einer ganzen Generation entscheidend geprägt, den Globus in Brand gesetzt, Flotten und Armeen in Asien, Amerika und Europa gegeneinander geführt, und da nun alles vorüber war, erschien das Leben vielen trostlos und leer. Für den Earl of Avebury wie für viele andere ließ sich diese Leere nur damit ausfüllen, dass sie die alte Rivalität immer wieder neu belebten. »Sagen Sie, wie oft hat die französische Kavallerie angegriffen?«, fragte der Earl.
»Haben Sie die Dienstboten aus der Mount Street hier ins Haus geholt?«, antwortete Sandman mit einer Gegenfrage.
»Dienstboten? Mount Street? Was faseln Sie da? Waren Sie überhaupt bei der Schlacht dabei?«
»Den ganzen Tag, Mylord. Und ich möchte lediglich von Ihnen wissen, ob eine Zofe namens Meg aus London hierher gekommen ist.«
»Wie zum Teufel soll ich wissen, was mit dem Personal dieser Hexe passiert ist? Wieso fragen Sie überhaupt danach?«
»Ein Mann ist im Gefängnis, Mylord, ihn erwartet die Hinrichtung wegen Mordes an Ihrer Frau, und es gibt allen Grund zu der Annahme, dass er unschuldig ist. Deshalb bin ich hier.«
Der Earl schaute zu Sandman auf und fing an zu lachen. Das Lachen kam tief aus seiner schmächtigen Brust, schüttelte ihn, trieb ihm Tränen in die Augen und ließ ihn beinahe an seinem Auswurf ersticken, dass er nach Atem rang. Er zog ein Taschentuch unter den Spitzenrüschen seines Ärmels hervor, wischte sich die Augen und spuckte in das Tuch. »Selbst mit ihrem Ende hat sie noch einem Mann Unrecht getan, was?«, fragte er heiser. »O ja, darin war sie gut. Meine Celia, schlecht sein konnte sie gut.« Er spuckte erneut in sein Taschentuch und funkelte Sandman wütend an. »Also, wie viele von Napoleons Bataillonen kamen den Hügel hinauf?«
»Nicht genug, Mylord. Was ist mit den Dienstboten Ihrer Frau?«
Der Earl überhörte Sandmans Frage, da inzwischen das kalte Hühnchen und der Champagner auf dem Rand des Modelltischs standen. Er befahl Betty, das Hühnchen zu schneiden, und legte ihr dabei den Arm um die Taille. Sie schauderte offenbar leicht, als er sie berührte, duldete aber seine Zärtlichkeit.
Der Earl schaute Sandman aus schmerzerfüllten Augen an; etwas Auswurf hing an seinem stoppeligen Kinn. »Ich mochte schon immer junge Frauen, junge Zarte.« Dem anderen Mädchen befahl er: »Du! Schenk den Champagner ein, Kind.« Das Mädchen trat an seine andere Seite. Während sie den Champagner einschenkte, fahr der Earl ihr mit der Hand unter den Rock und blickte Sandman weiter herausfordernd an. »Junges Fleisch, jung und zart.« Seine Dienstboten starrten die getäfelten Wände an, und Sandman schaute aus dem Fenster, wo zwei Männer mit der Sense den Rasen schnitten, während ein Dritter das Heu rechte. Zwei Reiher flogen in der Ferne über den Bach.
Der Earl ließ die beiden Mädchen los, verschlang sein Hühnchen und schlürfte Champagner. Mit einem Klaps auf den Hintern schickte er die Mädchen wieder an ihre Malarbeit. »Ich habe gehört, die Franzosen hätten mindestens zwanzig Mal angegriffen. Stimmt das?«
»Ich habe es nicht gezählt«, sagte Sandman, der immer noch aus dem Fenster schaute.
»Vielleicht waren Sie doch nicht dabei?«, vermutete der Earl.
Sandman biss nicht an. Er schaute immer noch aus dem Fenster, sah aber nicht die langen Sensen, die durch das Gras zischten, sondern einen belgischen Hang unter Rauchschwaden. Er durchlebte seinen wiederkehrenden Traum, sah die französische Kavallerie den Hang hinaufstürmen, die Pferde mühsam durch den nassen Boden pflügen. Die Luft über den britischen Stellungen schien so heiß, als habe jemand die Höllenpforten geöffnet, und in Hitze und Rauch stürmten unentwegt weitere Franzosen heran. Sandman hatte ihre Angriffe nicht gezählt, denn es waren zu viele, eine endlose Abfolge von Kavalleristen donnerte mit blutenden, hinkenden Pferden über die britischen Stellungen, Rauch von Musketen und Kanonen trieb über die britischen Standarten, der Boden unter den Füßen ein Gewirr aus zertrampelten Roggenhalmen, dick wie eine Binsenmatte, aber regennass und faulig. Die Franzosen schnitten mit rauchgeröteten Augen Grimassen und schrien mit offenem Mund für ihren untergehenden Kaiser. »Das Einzige, woran ich mich klar und deutlich erinnere, ist, dass ich Dankbarkeit gegenüber den Franzosen empfand«, sagte Sandman und wandte sich vom Fenster ab.
»Dankbarkeit, wieso?«
»Weil ihre Artillerie nicht auf uns schießen konnte, solange ihre Reiter so dicht durch unsere Stellungen stürmten.«
»Aber wie viele Angriffe führten sie? Jemand muss es doch wissen!«, sagte der Earl verärgert.
»Zehn?«, sagte Sandman. »Zwanzig? Sie kamen unentwegt. Es war wegen des Rauchs schwer zu zählen. Ich erinnere mich, dass ich sehr durstig war. Wir standen auch nicht einfach herum und schauten zu, wie sie kamen, wir schauten auch zurück.«