Er hörte, wie etwas hinter ihm in die Logenwand einschlug, und sah dort im Schatten eine Staubwolke. Nun erst wurde ihm klar, dass ein Schuss gefallen war. Verwundert schaute er sich um und sah ein Rauchwölkchen in der dämmrigen Höhe einer der oberen Logen. Ein Gewehr, dachte er. Das Geräusch war anders als das einer Muskete. Er erinnerte sich an die Grünröcke in Waterloo, den unverwechselbaren Klang ihrer Waffen und erkannte schlagartig, dass gerade jemand auf ihn geschossen hatte. Er war so erschrocken, dass er sich zunächst nicht rühren konnte. Er starrte lediglich auf den sich ausbreitenden Rauch und merkte, dass das Publikum verstummte. Einige hatten den Schuss über das tosende Rattern, Pfeifen und Schreien hinweg gehört, andere rochen den Pulvergestank, und plötzlich schrie jemand auf der oberen Galerie. Miss Lasorda starrte mit offenem Mund nach oben.
Sandman riss die Logentür auf und sah zwei Männer mit gezückten Pistolen die Treppe herauflaufen. Er schlug die Tür zu. »Wir treffen uns im Wheatsheaf«, sagte er Lord Alexander, schwang die Beine über die Balustrade der Loge, hielt kurz inne und sprang. Er landete unsanft, knickte mit dem linken Knöchel um und wäre beinahe gefallen. Das Publikum johlte, da es Sandman für einen Bestandteil der Vorstellung hielt, einige schrien jedoch, als sie die beiden bewaffneten Männer in Lord Alexanders Loge bemerkten.
»Captain!«, rief Sally und deutete auf die Seitenkulisse.
Sandman stolperte. Der heftige Schmerz in seinem Knöchel ließ ihn gegen das Götzenbild taumeln, das den Höhleneingang bewachte. Als er sich umdrehte, sah er, dass die beiden Männer in der Loge ihre Pistolen auf ihn richteten, aber keiner wagte es, auf eine Bühne voller Tänzerinnen zu schießen. Einer der Männer schwang ein Bein über die vergoldete Balustrade der Loge. Sandman humpelte in die Seitenkulisse, wo ein als Harlekin verkleideter Mann und ein weiterer mit geschwärztem Gesicht, großer Krone und Wunderlampe warteten. Sandman schob sich zwischen ihnen durch, stolperte durch das Gewirr von Seilen eine Treppe hinunter und bog unten in einen Gang. Sein Knöchel war zwar nicht gebrochen, aber doch so verstaucht, dass jeder Schritt eine Qual bedeutete. Im Gang blieb er mit pochendem Herzen stehen und lehnte sich gegen die Wand. Er hörte die Tänzerinnen auf der Bühne kreischen, dann Schritte auf der Holztreppe und kurz darauf bog ein Mann um die Ecke. Sandman stellte ihm ein Bein, brachte ihn zu Fall und setzte ihm den Fuß in den Nacken. Der Mann stöhnte. Sandman nahm ihm die Pistole aus der plötzlich kraftlosen Hand und drehte den Mann um. »Wer bist du?«, fragte er, aber der Mann spuckte Sandman bloß an. Sandman schlug ihn mit dem Pistolenlauf und durchsuchte seine Taschen, wo er eine Hand voll Patronen fand. Er stand auf, verzog das Gesicht vor Schmerz und humpelte den Gang entlang zum Bühnenausgang. Als er erneut Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um und hob die Pistole, aber es war Sally, die auf ihn zulief, ihre Straßenkleider als Bündel an sich gepresst.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie ihn.
»Hab mir den Knöchel verstaucht.«
»Schöner Krawall da oben«, sagte Sally. »Auf den Brettern ist mehr Obst als auf dem Markt.«
»Brettern?«, fragte er.
»Auf der Bühne«, erklärte sie kurz und öffnete die Tür.
»Sie sollten wieder zurückgehen«, riet Sandman.
»Ich sollte verdammt viel, aber ich tu es nicht«, sagte Sally. »Kommen Sie.« Sie zog ihn auf die Straße. Ein Mann pfiff beim Anblick ihrer Beine in den weißen Strümpfen. Sie fauchte ihn an, er solle verschwinden, und legte sich ihren Umhang um die Schultern. »Stützen Sie sich auf mich«, sagte sie zu Sandman, der humpelte und vor Schmerz stöhnte. »Ihnen geht es verdammt schlecht, was?«
»Verstauchter Knöchel«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass er gebrochen ist.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil er nicht bei jedem Schritt knirscht.«
»Verflucht, was ist passiert?«, fragte Sally.
»Jemand hat auf mich geschossen. Mit einem Gewehr.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sandman. Jemand vom Seraphim Club? Das schien am wahrscheinlichsten, vor allem nachdem Sandman das großzügige Bestechungsgeld abgelehnt hatte, aber es erklärte nicht das Kopfgeld, das nach Jack Hoods Aussage auf Sandman ausgesetzt war. Warum sollte der Seraphim Club Verbrecher für etwas bezahlen, was sie oder ihre Bediensteten durchaus selbst erledigen konnten? »Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte er verwirrt und erschrocken.
Sie hatten das Theater durch den Bühneneingang an der Rückseite verlassen und gingen – beziehungsweise humpelten – nun unter den Arkaden des Covent-Garden-Marktes entlang. Es war noch hell an diesem Sommerabend, aber lange Schatten lagen auf dem Pflaster, das mit den Überresten von Obst und Gemüse übersät war. Eine Ratte huschte Sandman über den Weg. Ständig schaute er sich um, entdeckte aber keine offensichtlichen Verfolger. Kein Zeichen von Sergeant Berrigan oder einem anderen in schwarz-gelber Livree. »Sie rechnen sicher damit, dass ich ins Wheatsheaf gehe«, sagte er zu Sally.
»Sie wissen aber nicht, durch welche Tür sie gehen, oder?«, wandte Sally ein. »Und wenn Sie erst mal drinnen sind, sind Sie in Sicherheit, Captain. Da gibt es keinen, der Sie nicht beschützen würde.« Als hinter ihnen eilige Schritte laut wurden, drehte sie sich erschrocken um, aber es war nur ein Kind, das vor einem wütenden Mann davon lief, der den Jungen beschuldigte, ein Taschendieb zu sein. Blumenverkäufer arrangierten ihre Körbe auf dem Bürgersteig und bereiteten sich auf die Theaterbesucher vor, die bald aus den beiden Theatern in der Nähe strömen würden. Pfiffe und Rasseln wurden laut. »Die verdammten Charlies auf dem Weg zum Einsatz«, sagte Sally. Sie meinte die Polizisten von der Bow Street, die zum Covent-Garden-Theater unterwegs waren. Stirnrunzelnd musterte sie die Pistole in Sandmans Hand. »Stecken Sie die Knarre weg. Sie wollen doch nicht, dass ein Charlie sie kassiert.«
Sandman steckte die Waffe in seine Tasche. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht im Theater sein sollten?«
»Die kriegen den blöden Zirkus doch nie wieder in Gang, dabei hat es ja überhaupt nicht richtig angefangen, oder? Totgeburt. Nein, Miss Sacharissas kleiner Abend des Ruhmes ist durchgefallen, stimmt’s? Sie heißt übrigens gar nicht Sacharissa Lasorda.«
»Das hatte ich auch nicht angenommen.«
»Flossie heißt sie und war früher die Freundin des Feuerschluckers im Astley. Muss schon dreißig sein und verdiente ihre Brötchen zuletzt in einem Institut, wie ich gehört habe.«
»Sie war Lehrerin?«, fragte Sandman überrascht. Nur wenige Frauen wählten diesen Beruf, und Miss Lasorda, oder wie sie heißen mochte, wirkte nicht wie eine Lehrerin.
Sally krümmte sich vor Lachen und musste sich auf Sandman stützen. »Gott, ich liebe Sie, Captain«, sagte sie immer noch lachend. »Ein Institut ist nicht zum Lernen. Jedenfalls nicht aus Büchern. Es ist ein Bordell!«
»Ach«, sagte Sandman.
»Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte Sally, als sie das Theater in der Drury Lane erreichten, aus dem lauter Beifall erklang. »Was macht Ihr Knöchel?«
»Ich denke, ich kann allein gehen«, sagte Sandman.
»Versuchen Sie es«, ermunterte Sally ihn und schaute zu, wie Sandman ein paar Schritte humpelte. »Heute Abend ziehen Sie den Stiefel besser nicht aus«, riet sie ihm. »Sonst wird der Knöchel unheimlich dick.« Sie ging vor und öffnete den Haupteingang zum Wheatsheaf. Sandman rechnete fast damit, dass dort bereits jemand mit einer Pistole wartete, aber der Eingang war leer.
»Ich schaue besser nach, ob das Hinterzimmer frei ist«, sagte Sandman, »wir wollen schließlich nicht den ganzen Abend über die Schulter schauen.« Er führte Sally durch den voll besetzten Schankraum, wo der Wirt an einem Tisch Hof hielt. »Ist das Hinterzimmer frei?«, fragte Sandman ihn.
Jenkins nickte. »Der Herr sagte, dass Sie wiederkommen würden, Captain, und hat es für Sie reserviert. Da ist auch ein Brief für Sie, ein Knecht hat ihn gebracht.«