»Sie haben zusammen am Theater gearbeitet«, sagte Corday.
»Zusammen gearbeitet? Meg war Schauspielerin?« Sandman klang erstaunt.
»Nein, sie war Garderobiere.« Corday schaute verlegen auf das Porträt. »Ich glaube, sie war mehr als nur Garderobiere.«
»Mehr?«
»Eine Kupplerin«, sagte Corday und schaute zu Sandman auf.
»Woher wissen Sie das?«
Der Maler zuckte die Achseln. »Es ist merkwürdig, wie die Leute sich unterhalten, wenn man ihr Porträt malt. Sie vergessen völlig, dass man da ist. Man wird zum Teil des Mobiliars. Die Countess und Meg unterhielten sich, und ich hörte zu.«
»Wussten Sie, dass der Earl das Porträt nicht in Auftrag gegeben hat?«, fragte Sandman.
»Nicht?« Das hörte Corday offenbar zum ersten Mal. »Sir George sagte das.«
Sandman schüttelte den Kopf. »Der Auftrag kam vom Seraphim Club. Haben Sie von dem schon gehört?«
»Ja«, antwortete Corday, »aber ich war nie da.«
»Sie wussten also nicht, dass sie das Porträt bestellt hatten?«
Berrigan war neben Sandman getreten. Als er Megs Porträt sah, verzog er das Gesicht, und Sandman drehte es so, dass Berrigan es besser betrachten konnte. »Haben Sie sie schon mal gesehen?«, fragte er und überlegte, ob das Mädchen je im Seraphim Club gewesen sein mochte, aber Berrigan schüttelte den Kopf.
Sandman wandte sich wieder an Corday. »Es besteht eine Chance, dass wir sie finden.«
»Wie groß ist die Chance?«, fragte Corday mit glitzernden Augen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sandman. Er sah die Hoffnung in Cordays Augen verlöschen. »Haben Sie Tinte und Feder hier?«, fragte er.
Corday besaß beides. Sandman riss einen der großen Bögen Zeichenpapier in zwei Hälften, tauchte die Stahlfeder in die Tinte, ließ sie abtropfen und schrieb: Lieber Witherspoon, der Überbringer dieses Schreibens, Sergeant Berrigan, ist ein Kamerad von mir. Er hat bei den First Foot Guards gedient, und ich vertraue ihm vorbehaltlos. Sandman war nicht sicher, ob die letzte Äußerung ganz der Wahrheit entsprach, aber im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als anzunehmen, dass Berrigan vertrauenswürdig war. Er tauchte die Feder erneut in die Tinte und war sich bewusst, dass Corday jedes Wort von der anderen Tischseite aus lesen konnte. Bedauerlicherweise könnte es notwendig werden, dass ich Seine Lordschaft am kommenden Sonntag erreichen muss, und in der Annahme, dass Seine Lordschaft an diesem Tag nicht im Innenministerium sein dürfte, möchte ich Sie bitten, mir mitzuteilen, wo ich ihn erreichen könnte. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Ihre Zeit in Anspruch nehme, und versichere Ihnen, dass ich dies lediglich tue, weil ich unter Umständen Dinge von äußerster Dringlichkeit zu berichten habe. Sandman las den Brief noch einmal durch, unterschrieb und pustete auf die Tinte, bis sie getrocknet war. »Das wird ihm nicht gefallen«, sagte er vor sich hin, faltete den Brief zusammen und stand auf.
»Captain!« Corday schaute Sandman flehend und mit Tränen in den Augen an.
Sandman wusste, was der Junge hören wollte, konnte ihm aber keinen Trost bieten. »Ich tue mein Bestes«, sagte er lahm, »aber ich kann nichts versprechen.«
»Es kommt bestimmt alles in Ordnung, Charlie«, tröstete ihn der Bärtige aus dem West County, und Sandman, der nichts Hilfreiches mehr hinzuzufügen vermochte, steckte das Porträt in die Innentasche seines Gehrocks und ging Berrigan voraus zum Ausgang.
Offensichtlich verwundert, schüttelte Berrigan den Kopf, als sie das Pförtnerhäuschen erreichten. »Sie haben mir gar nicht gesagt, dass er eine verdammte Schwuchtel ist!«
»Spielt das eine Rolle?«
»Es wäre schön zu wissen, dass wir uns für einen richtigen Mann einsetzen«, knurrte Berrigan.
»Er ist ein sehr guter Maler.«
»Das ist mein Bruder auch.«
»Wirklich?«
»Er malt Häuser an, Captain. Dachrinnen, Türen und Fenster. Aber er ist kein warmer Bruder wie dieser kleine Wurm.«
Sandman öffnete die Außentür des Gefängnisses und schauderte beim Anblick des strömenden Regens. »Ich mag Corday auch nicht besonders«, gestand er, »aber er ist unschuldig, Sergeant, und er hat den Strang nicht verdient.«
»Das gilt für die meisten, die gehängt werden.«
»Schon möglich. Aber wir sind für Corday verantwortlich, ob Schwuchtel oder nicht.« Er reichte Berrigan den Brief. »Innenministerium. Fragen Sie nach einem Mann namens Sebastian Witherspoon, geben Sie ihm das, und anschließend treffen wir uns bei Gunter am Berkeley Square.«
»Und das alles für eine verdammte Schwuchtel, was?«, fragte Berrigan, steckte aber den Brief in die Tasche und stürzte sich mit einer Grimasse wegen des Regens in den Verkehr. Sandman humpelte langsam hinterher.
Er fürchtete, der Regen könnte Eleanor und ihre Mutter von ihren Besorgungen abhalten, ging aber dennoch zum Berkeley Square und traf völlig durchnässt vor der Konditorei Gunter ein. Ein Portier hatte unter der Markise Schutz gesucht und musterte Sandmans schäbigen Mantel mit schiefem Blick, bevor er zögernd die Tür öffnete, als wolle er Sandman Zeit lassen, sich zu überlegen, ob er tatsächlich hineingehen wolle.
Hinter den beiden großen Schaufenstern befanden sich im vorderen Teil der Konditorei vergoldete Theken, Stühle mit Spindelbeinen, hohe Spiegel und ausladende Kronleuchter, die an diesem trüben Tag angezündet waren. Ein Dutzend Damen kauften Gunters berühmtes Konfekt, Schokolade, Meringueskulpturen und Delikatessen aus Zuckerwatte, Marzipan und glasierten Früchten. Die Unterhaltung verstummte, als Sandman den Laden betrat. Die Damen starrten ihn an, wie er triefend dastand, nahmen ihre Gespräche aber wieder auf, sobald er in den großen rückwärtigen Raum ging, wo einige Tische unter großen Dachfenstern mit Buntglasscheiben standen. Da er Eleanor an keinem der sechs besetzten Tische sah, hängte Sandman Mantel und Hut an einen Bugholzständer und setzte sich an ein Tischchen im hinteren Teil des Raumes, wo er halb von einem Pfeiler verdeckt war. Er bestellte Kaffee und den Morning Chronicle.
In der Zeitung las er, dass in Sussex wieder Heuschober abgebrannt waren, es in Newcastle einen Brotaufstand gegeben hatte und in Derbyshire drei Fabriken angezündet und die Maschinen verwüstet worden waren. In Manchester, wo der Mehlpreis auf vier Schillinge, neun Pence für zwölf Pfund gestiegen war, hatte die Miliz für Ordnung sorgen müssen. In Lancashire forderte der Magistrat vom Innenminister, die Habeas-corpus-Akte auszusetzen, um die Ordnung aufrecht erhalten zu können. Sandman schaute auf die Uhr und sah, dass Eleanor bereits zehn Minuten zu spät war. Er trank seinen Kaffee und fühlte sich unbehaglich, weil Stuhl und Tisch zu klein waren und ihm das Gefühl vermittelten, in einem Klassenzimmer zu sitzen. Er wandte sich wieder der Zeitung zu. In Preußen hatte es eine Überschwemmung gegeben, bei der man mindestens hundert Todesopfer befürchtete. Der Walfänger Lydia aus Whitehaven war mit der gesamten Mannschaft vor den Grand Banks untergegangen. Der Ostindienfahrer Calliope war mit einer Ladung Porzellan, Ingwer, Indigo und Muskatnuss im Pool of London eingelaufen. Bei einem Tumult im Theater Covent Garden hatte es Kopfverletzungen und Knochenbrüche, aber keine Schwerverletzten gegeben. Meldungen, dass im Theater ein Schuss gefallen sei, wurden von der Theaterleitung dementiert. Leichte Schritte näherten sich, Parfüm wehte herüber und ein Schatten legte sich auf seine Zeitung. »Du siehst finster aus, Rider«, sagte Eleanor.