»Die Schande ist groß«, gab Sandman zu.
»Das war dein Vater, nicht du!«
»Manchmal glaube ich, dass ich meinem Vater sehr ähnlich bin«, sagte Sandman.
»Dann war er besser, als ich dachte«, erwiderte Eleanor heftig und tupfte sich die Augen mit ihrem Taschentuch. Die Kellnerin brachte Eis und Waffeln, und da sie glaubte, Sandman habe Eleanor mit etwas, was er gesagt habe, aus der Fassung gebracht, bedachte sie ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Eleanor wartete, bis das Mädchen gegangen war, bevor sie sagte: »Ich hasse es zu weinen.«
»Du weinst ja nur selten.«
»In den letzten sechs Monaten habe ich geweint wie ein Springbrunnen«, sagte Eleanor und schaute zu ihm auf. »Gestern Abend habe ich Mama gesagt, dass ich mich immer noch als deine Verlobte betrachte.«
»Ich fühle mich geehrt.«
»Eigentlich solltest du sagen, dass es auf Gegenseitigkeit beruht.«
Sandman lächelte zögernd. »Ich wünschte, es wäre wahr, wirklich.«
»Vater hätte nichts dagegen«, sagte Eleanor, »zumindest glaube ich, dass er nichts dagegen hätte.«
»Aber deine Mutter?«
»Ja! Als ich ihr gestern Abend von meinen Gefühlen erzählte, bestand sie darauf, dass ich Doktor Harriman aufsuche. Hast du von ihm gehört? Natürlich nicht. Wie Mama mir sagt, ist er ein Experte für weibliche Hysterie, und es gilt als große Ehre, von ihm untersucht zu werden. Aber ich brauche ihn nicht! Ich bin nicht hysterisch, ich liebe nur unpassenderweise dich, und wenn dein verflixter Vater sich nicht getötet hätte, wären wir beide inzwischen längst verheiratet. Ich beneide Männer.«
»Wieso?«
»Sie dürfen fluchen, ohne dass jemand die Augenbrauen hebt.«
»Fluche ruhig, Liebes«, sagte Sandman.
Eleanor tat es und musste lachen. »Das war gut. O je, wenn wir eines Tages verheiratet sind, werde ich viel zu viel fluchen und du bist mich bald leid.« Sie schniefte und kostete seufzend ihr Eis. »Das ist das wahre Paradies«, sagte sie und schob den langen Silberlöffel tief in das Eis. »Ich schwöre, damit kann am Zusammenfluss von Ohio und Mississippi nichts mithalten. Armer Rider. Du dürftest nicht einmal im Traum daran denken, mich zu heiraten. Du solltest den Hut vor Caroline Standish ziehen.«
»Caroline Standish? Ich habe noch nie von ihr gehört.« Er kostete das Eis, das tatsächlich himmlisch war.
»Caroline Standish ist die wohl reichste Erbin Englands, Rider, und ein sehr hübsches Mädchen obendrein, aber ich muss dich warnen: Sie ist Methodistin. Goldblondes Haar, zum Teufel mit ihr, ein wirklich entzückendes Gesicht und ein Einkommen von geschätzten dreißigtausend im Jahr. Der Nachteil ist, dass du in ihrer Gegenwart keine geistigen Getränke zu dir nehmen, nicht rauchen, keine Gotteslästerung treiben, keinen Schnupftabak nehmen und dich in keiner Weise vergnügen darfst. Ihr Vater hat sein Geld mit Töpferwaren verdient, aber inzwischen leben sie in London und beten in dieser vulgären kleinen Kapelle in Spring Gardens. Ich bin überzeugt, du könntest ihre Blicke auf dich ziehen.«
»Das glaube ich gern«, sagte Sandman.
»Und ich bin überzeugt, dass sie Kricket billigen würde«, sagte Eleanor, »solange du es nicht am heiligen Sonntag spielst. Spielst du noch Kricket, Rider?«
»Nicht so oft, wie Alexander es gern hätte.«
»Sie sagen, Lord Frederick Beauclerk verdient sechshundert im Jahr mit Kricket-Wetten. Könntest du das nicht auch?«
»Ich bin ein besserer Schlagmann als er«, sagte Sandman wahrheitsgemäß. Lord Frederick, ein Freud Lord Alexanders und wie er ein Aristokrat und Priester, war der Sekretär des Kricketclubs Marylbone, der auf dem Thomas-Lord-Platz gespielt hatte. »Aber im Glücksspiel bin ich schlechter«, fuhr Sandman fort. »Außerdem setzt Beauclerk Geld ein, das zu verlieren er sich leisten kann, und über solche Mittel verfüge ich nicht.«
»Dann heirate die fromme Miss Standish«, sagte Eleanor. »Es besteht zwar das kleine Hindernis, dass sie bereits verlobt ist, aber Gerüchten zufolge ist sie keineswegs völlig überzeugt, dass der zukünftige Duke of Ripon auch nur annähernd so gottesfürchtig ist, wie er vorgibt. Er besucht zwar die Kapelle in Spring Gardens, aber man vermutet, dass er es lediglich tut, damit er ihre goldenen Federn rupfen kann, wenn er erst einmal mit ihr verheiratet ist.«
»Der zukünftige Duke of Ripon?«, fragte Sandman.
»Er hat natürlich einen eigenen Titel, aber ich erinnere mich nicht mehr, welchen. Mutter wüsste es bestimmt.«
Sandman wurde still. »Ripon?«
»Eine Bischofsstadt in Yorkshire, Rider.«
»Marquess of Skavadale ist der Titel, den der Erbe des Dukedom of Ripon trägt«, sagte Sandman.
»Genau! Gut!« Eleanor musterte ihn stirnrunzelnd. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Skavadale ist ganz und gar nicht gottesfürchtig«, sagte Sandman. Er erinnerte sich, dass der Earl of Avebury ihm erzählt hatte, seine Frau habe junge Männer der Gesellschaft erpresst. Hatte die Countess auch Skavadale erpresst? Seine Geldknappheit war allgemein bekannt, und die Güter seines Vaters waren offenkundig bis unters Dach verschuldet, dennoch hatte Skavadale es geschafft, sich mit der reichsten Erbin von England zu verloben. Und wenn er den Acker der Countess of Avebury gepflügt hatte, dürfte sie ihn durchaus für ein lohnendes Ziel einer Erpressung gehalten haben. Auch wenn seine Familie den größten Teil ihres Vermögens verloren hatte, besaß sie vermutlich noch etwas Geld und einiges an Porzellan, Silber und Gemälden, was sie verkaufen konnte; mehr als genug, um die Countess zufrieden zu stellen.
»Du bist mir ein Rätsel«, beklagte sich Eleanor.
»Ich glaube, der Marquess of Skavadale ist mein Mörder«, sagte Sandman, »entweder er oder einer seiner Freunde.« Hätte Sandman Wetten abschließen sollen, wer der Mörder sei, hätte er sich eher für Lord Robin Holloway als für den Marquess entschieden, aber er war sich ziemlich sicher, dass einer von beiden es getan hatte.
»Dann willst du gar nicht mehr wissen, was Lizzie herausgefunden hat?«, fragte Eleanor enttäuscht.
»Deine Zofe? Sicher will ich das wissen. Ich muss es wissen.«
»Meg war nicht besonders beliebt bei den anderen Dienstboten. Sie hielten sie für eine Hexe.«
»So sieht sie auch aus«, sagte Sandman.
»Hast du sie schon gefunden?«, fragte Eleanor aufgeregt.
»Nein, ich habe ein Bild von ihr gesehen.«
»Heutzutage lässt sich anscheinend jede malen«, sagte Eleanor.
»Dieses Bild.« Sandman zog die Zeichnung aus seiner Rocktasche und zeigte sie Eleanor.
»Rider, du glaubst doch nicht, dass sie die dickköpfige Schweinefrau ist?«, fragte Eleanor. »Nein, das kann nicht sein, sie hat keinen Schnurrbart.« Sie seufzte. »Armes Mädchen, so hässlich zu sein.« Sie schaute die Zeichnung lange an, bevor sie das Papier zusammenrollte und Sandman zurückgab. »Was wollte ich gerade sagen? Ach ja, Lizzie hat herausgefunden, dass Meg in einer Kutsche vom Stadthaus der Countess fortgebracht wurde, einer sehr vornehmen Kutsche, die entweder schwarz oder dunkelblau war und ein seltsames Wappen auf der Tür hatte. Es war kein richtiges Wappen, nur ein Schild mit einem goldenen Engel auf rotem Grund.« Eleanor zerkrümelte eine Waffel. »Ich habe Hammond gefragt, ob er dieses Wappenschild kennt, und er wurde ganz geziert: ›Ein Feldrot mit einem Engelgold, Miss Forrest.‹ Aber erstaunlicherweise wusste er nicht, wem es gehört, und war ganz außer sich.«
Sandman grinste bei dem Gedanken, dass Sir Henry Forrests Butler ein Wappen nicht hatte identifizieren können. »Er sollte sich nicht aufregen«, sagte Sandman, »ich glaube nämlich kaum, dass das Wappenkolleg diese Devise vergeben hat. Es ist das Zeichen des Seraphim Clubs.«
Eleanor schnitt eine Grimasse bei der Erinnerung, was Sandman ihr und ihrem Vater Anfang der Woche erzählt hatte, obwohl er ihnen natürlich nicht alles gesagt hatte, was er über die Seraphim wusste. »Und der Marquess of Skavadale ist Mitglied des Seraphim Clubs?«, fragte sie.