»Haut doch ab!«, sagte Sammy aufsässig, jaulte aber dann auf. »Ich wollte nirgendwohin!« Berrigan zog seine Faust zurück. »Er hat gesagt, wenn Sie wiederkommen, soll ich Hilfe holen«, sagte Sammy hastig.
»Aus dem Seraphim Club?«, erriet Sandman. Der Junge nickte. »Halten Sie ihn fest, Sergeant«, sagte Sandman und ging die Treppe hinauf. »Fi, fo, fams!«, sang er lauthals, »ich riech das Blut eines Englischmanns!« Diesen Lärm veranstaltete er, um Sally zu warnen, damit Sergeant Berrigan sie nicht nackt sähe. Sandman bezweifelte nicht, dass Berrigan ohnehin bald in diesen Genuss kommen würde, aber ebenso wenig bezweifelte er, dass Sally lieber selbst entscheiden wollte, wann es so weit wäre. »Sir George!«, brüllte er. »Sind Sie da?«
»Wer zum Teufel ist da?«, rief Sir George. »Sammy?«
»Sammy ist unser Gefangener«, rief Sandman.
»Gottverdammt! Sind Sie das?« Sir George bewegte sich erstaunlich schnell für einen so dicken Mann, er lief an einen Schrank und holte eine langläufige Pistole heraus. Damit rannte er oben an die Treppe und richtete die Waffe auf Sandman. »Keinen Schritt weiter, Captain, sonst kostet es Sie das Leben!«
Sandman warf einen Blick auf die Pistole und ging weiter. »Seien Sie kein Narr«, sagte er müde. »Wenn Sie mich erschießen, müssen Sie auch Sergeant Berrigan erschießen, anschließend müssen Sie Sally zum Schweigen bringen, und dazu müssen Sie sie ebenfalls erschießen, also hätten Sie drei Leichen am Hals.« Er nahm die letzten Stufen und entwand dem Maler ohne Umstände die Waffe. »Es ist immer besser, eine Waffe zu spannen, wenn man wirklich bedrohlich wirken will«, sagte er, drehte sich um und nickte Berrigan zu. »Erlauben Sie mir, Ihnen Sergeant Berrigan vorzustellen, ehemals First Foot Guards, anschließend Seraphim Club und nun Freiwilliger in meiner Armee der Gerechten.« Sandman sah erleichtert, dass Sally die Warnung verstanden und ihren Umhang übergezogen hatte. Er zog den Hut und verbeugte sich vor ihr. »Miss Hood, meinen Respekt.«
»Sie humpeln immer noch?«, fragte Sally und wurde rot, als Sergeant Berrigan erschien.
»Er tut mir weh!«, jammerte Sammy.
»Ich bringe dich um, wenn du nicht still bist«, knurrte Berrigan und nickte Sally zu. »Miss Hood.« Als er das Gemälde sah, bekam er vor Bewunderung ganz große Augen, und Sally wurde noch röter.
»Sie können Sammy loslassen, er wird keine Hilfe mehr holen wollen«, sagte Sandman zu Berrigan.
»Er tut, was ich ihm sage!«, schaltete Sir George sich kampfeslustig ein.
Sandman trat an das Gemälde und betrachtete die Hauptfigur. Ihm fiel auf, dass die Maler und Kupferstecher Admiral Nelson seit seinem Tod immer zierlicher dargestellt hatten, sodass der Held inzwischen fast schon wie ein Geist wirkte. »Wenn Sie Sammy befehlen, Hilfe zu holen, werde ich in Umlauf bringen, dass in Ihrem Atelier Frauen getäuscht werden, dass Sie sie bekleidet porträtieren und anschließend ohne ihr Wissen als Akt darstellen.« Er drehte sich um und grinste den Maler an. »Wie würde sich das wohl auf Ihre Preise auswirken?«
»Sie verdoppeln!«, sagte Sir George trotzig. Als er jedoch erkannte, dass Sandmans Drohung Hand und Fuß hatte, sackte er in sich zusammen wie eine zerstochene Blase. »Du gehst nirgendwohin, Sammy.«
Berrigan ließ den Jungen los. »Du kannst Tee aufbrühen«, sagte Sandman.
»Ich helfe dir, Sammy«, bot Sally an und folgte dem Jungen nach unten. Sandman vermutete, dass sie sich anziehen wollte.
Sandman wandte sich an Sir George: »Sie sind ein alter Mann, Sir George, Sie sind dick und trinken. Ihre Hände zittern. Noch können Sie malen, aber wie lange noch? Sie leben von Ihrem guten Ruf, aber den kann ich ruinieren. Ich kann dafür sorgen, dass Männer wie Sir Henry Forrest nie wieder ein Porträt ihrer Frauen und Töchter bei Ihnen bestellen aus Angst, dass sie mit ihnen das Gleiche machen wie mit der Countess of Avebury.«
»Das würde ich niemals tun …«, setzte Sir George an.
»Seien Sie still«, sagte Sandman. »Ich kann in meinen Bericht an das Innenministerium schreiben, dass Sie ihnen bewusst die Wahrheit vorenthalten haben.« Das war in Wirklichkeit eine wesentlich harmlosere Drohung, was Sir George aber nicht wissen konnte. Er fürchtete ein Gerichtsverfahren, Verurteilung und Gefängnis. Vielleicht fürchtete er auch, nach Australien deportiert zu werden, denn er begann vor Angst zu zittern. »Ich weiß, dass Sie gelogen haben«, sagte Sandman. »Und jetzt sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Und wenn ich es tue?«
»Dann werden Sergeant Berrigan und ich es niemandem sagen. Warum sollte es uns scheren, was aus Ihnen wird? Ich weiß, dass Sie die Countess nicht ermordet haben, und das ist das Einzige, was mich interessiert. Also sagen Sie uns die Wahrheit, Sir George, dann lassen wir Sie in Frieden.«
Sir George sank auf einen Schemel. Die Lehrlinge und die beiden Männer, die als Nelson und Neptun Modell standen, starrten ihn an, bis er sie anknurrte, sie sollten nach unten gehen. Erst als sie fort waren, schaute er Sandman an. »Der Seraphim Club hat das Gemälde bestellt.«
»Das weiß ich.« Sandman ging an dem Tisch voller Lappen, Pinsel und Töpfe vorbei in den hinteren Teil des Ateliers. Er suchte Eleanors Porträt, fand es aber nicht. Er drehte sich um. »Sir George, ich will wissen, wer aus dem Club es in Auftrag gegeben hat.«
»Das weiß ich nicht. Wirklich! Ich weiß es nicht!« Er bettelte mit spürbarer Angst. »Es waren zehn oder elf Mitglieder, ich erinnere mich nicht mehr.«
»Zehn oder elf?«
»Sie saßen an einem Tisch wie beim Letzten Abendmahl, nur ohne Jesus«, erzählte Sir George. »Sie sagten, sie wollten das Gemälde für ihre Galerie anfertigen lassen, und versprachen, es würden noch weitere folgen.«
»Weitere Gemälde?«
»Aktbilder von Frauen mit Adelstitel, Captain«, schnaubte . Sir George. »Sie war ihre Trophäe. Sie erklärten mir, wenn mehr als drei Clubmitglieder eine Frau besessen hätten, würde sie in ihre Galerie aufgenommen.«
Sandman sah Berrigan fragend an, der die Achseln zuckte. »Klingt wahrscheinlich«, sagte der Sergeant.
»Sie haben eine Galerie?«
»Oben im Flur«, antwortete Berrigan, »aber sie haben gerade erst angefangen, Gemälde da aufzuhängen.«
»Der Marquess of Skavadale war einer dieser elf?«, fragte Sandman Sir George.
»Zehn oder elf.« Sir George klang verärgert, dass er Sandman berichtigen musste. »Ja, Skavadale war dabei. Lord Pellmore ebenfalls. Ich erinnere mich noch an Sir John Lassiter, aber die meisten kannte ich nicht.«
»Sie stellten sich Ihnen nicht vor?«
»Nein«, sagte Sir George kurz angebunden, weil er damit zugab, dass man ihn im Seraphim Club nicht als Gentleman, sondern als Handwerker behandelt hatte.
»Ich halte es für wahrscheinlich, dass einer dieser zehn oder elf Männer der Mörder der Countess ist«, erklärte Sandman ruhig und schaute Sir George fragend an, als erwarte er eine Bestätigung von ihm.
»Wie soll ich das wissen«, antwortete Sir George.
»Sie müssen aber doch vermutet haben, dass Charles Corday den Mord nicht begangen hat?«
»Der kleine Charlie?« Für einen Moment wirkte Sir George amüsiert, sah aber Sandmans wütende Miene und zuckte die Achseln. »Es erschien mir unwahrscheinlich«, bestätigte er.
»Aber Sie haben kein Gnadengesuch für ihn eingereicht? Sie haben die Bittschrift seiner Mutter nicht unterschrieben? Sie haben nichts unternommen, um ihm zu helfen?«
»Er wurde verurteilt, oder nicht?«, sagte Sir George. »Ihm ist Gerechtigkeit widerfahren.«
»Das bezweifele ich«, sagte Sandman erbittert. »Das bezweifele ich sehr.«
Sandman untersuchte die Pistole, die er Sir George abgenommen hatte, und sah, dass sie nicht geladen war. »Haben Sie Pulver und Kugeln?«, fragte er. Als er die Angst in der Miene des Malers sah, schimpfte er: »Ich will Sie nicht erschießen, Sie Narr! Pulver und Kugeln sind für andere bestimmt, nicht für Sie!«