»Welche Mädchen?«
»Ganz gewöhnliche Mädchen, Captain, Mädchen, die ihnen auf der Straße aufgefallen waren.«
»Wurden sie entführt?«
»Ja«, sagte Berrigan, »entführt, vergewaltigt und abgefunden.«
»Machten das alle Mitglieder?«
»Einige waren schlimmer als andere. Es gibt immer ein paar, die für jede Schandtat zu haben sind, genau wie in einer Kompanie Soldaten. Und dann gibt es noch die Mitläufer. Und einer oder zwei von denen sind einfühlsamer. Deshalb war ich ja auch überrascht, dass Skavadale die Countess umgebracht hat. Er ist nicht schlecht. Er hat einen Stock verschluckt und denkt, er riecht nach Veilchen, aber er ist kein schlechter Mensch.«
»Ich hatte gehofft, Lord Robin habe es getan«, gab Sandman zu.
»Er ist ein verrückter Hund«, sagte Berrigan. »Verdammt reich und verrückt.«
»Aber Skavadale hat mehr zu verlieren«, erklärte Sandman.
»Das hat er schon verloren«, sagte Berrigan. »Er ist der wohl ärmste Mann im Club. Sein Vater hat ein Vermögen verspielt.«
»Aber der Sohn ist mit einem sehr reichen Mädchen verlobt«, entgegnete Sandman. »Mit der wohl reichsten Braut in ganz Großbritannien. Ich vermute, er trieb es mit der Countess of Avebury, die die hässliche Angewohnheit hatte, Männer zu erpressen.« Sandman dachte ein Weilchen nach. »Skavadale mag relativ arm sein, aber ich wette, er konnte immer noch tausend Pfund zusammenkratzen, wenn er musste. Das ist vermutlich die Größenordnung, die die Countess verlangt haben dürfte, damit sie keinen Brief an die wohlhabende, fromme Braut schrieb.«
»Also hat er sie getötet?«, fragte Berrigan.
»Ja«, sagte Sandman.
Berrigan überlegte. »Warum haben sie das Porträt von ihr malen lassen?«
»In gewisser Weise hatte das nichts mit dem Mord zu tun«, sagte Sandman. »Es war ganz einfach so, dass mehrere der Seraphim es mit der Countess getrieben hatten und ihr Porträt als Trophäe wollten. Und der arme Corday war gerade dabei, sie zu malen, als Skavadale sie besuchte. Wir wissen, dass er die Hintertreppe hinaufkam, den Geheimweg, und Corday rasch abgeschoben wurde, als die Countess hörte, dass einer ihrer Liebhaber gekommen war.« Sandman war sicher, dass es sich so zugetragen haben musste. Er stellte sich die peinliche Stille im Schlafzimmer vor, während Corday malte und die Countess auf dem Bett lag und mit der Zofe plauderte. Die Kohle dürfte auf dem Papier geschabt haben, dann waren Schritte auf der Hintertreppe zu hören und Cordays Qual begann.
Berrigan trank einen Schluck und reichte Sandman wieder die Flasche. »Das Mädchen Meg bringt also die Schwuchtel nach unten«, sagte er, »sie wirft ihn raus, geht wieder nach oben und findet was vor? Die tote Countess?«
»Vermutlich. Oder die sterbende Countess, und sie findet den Marquess of Skavadale vor.« Hatte die Countess sich wohl gefreut, den Marquess zu sehen, überlegte Sandman. Oder war ihr ehebrecherisches Verhältnis bereits zu Ende? Vielleicht war Skavadale gekommen, um sie zu bitten, von ihren Forderungen abzugehen, aber die Countess, die dringend Geld brauchte, hatte ihn nur ausgelacht. Vielleicht hatte sie angedeutet, er müsse noch mehr bezahlen. Irgendwie hatte sie ihn jedenfalls so in Rage gebracht, dass er ein Messer zog. Welches Messer? Ein Mann wie Skavadale trug kein Messer bei sich. Vielleicht hatte eines im Zimmer gelegen? Meg dürfte es wissen. Vielleicht hatte die Countess Obst gegessen und Skavadale hatte das Schälmesser ergriffen und sie erstochen. Als sie dann bleich und sterbend auf dem blutüberströmten Bett lag, hatte er die Geistesgegenwart besessen, Cordays Palettenmesser in eine ihrer Wunden zu stecken. Etwa in diesem Augenblick war Meg zurückgekommen. Vielleicht hatte Meg aber auch den Kampf mit angehört und wartete draußen, als Skavadale herauskam.
»Warum hat er Meg nicht auch getötet?«, fragte der Sergeant.
»Weil Meg keine Bedrohung für ihn ist«, vermutete Sandman. »Die Countess brachte seine Verlobung mit einem Mädchen in Gefahr, das wahrscheinlich sämtliche Hypotheken auf den Gütern der Familie tilgen kann – allesamt! Und die Countess hätte dieser Verlobung ein Ende bereitet. Es gibt keine größere Tragödie als einen Aristokraten, der sein Vermögen verliert, denn mit seinem Vermögen verliert er auch seine gesellschaftliche Stellung. Sie glauben, sie seien von Geburt aus besser als wir Übrigen, aber das sind sie nicht, sie sind nur wesentlich reicher, und sie müssen reich bleiben, wenn sie die Illusion ihrer Überlegenheit aufrecht erhalten wollen. Die Countess hätte Skavadale in die Gosse bringen können, daher hasste er sie und tötete sie, aber die Zofe tötete er nicht, weil sie keine Bedrohung darstellte.«
Berrigan dachte darüber nach. »Er bringt die Zofe also auf einen seiner verschuldeten Landsitze?«
»So scheint es zu sein«, sagte Sandman.
»Warum versucht dann Lord Robin Holloway, Sie zu töten?«
»Weil ich eine Gefahr für seinen Freund bin, natürlich«, antwortete Sandman entschieden. »Das Letzte, was sie wollen, ist, dass die Wahrheit ans Licht kommt, also haben sie mich zu bestechen versucht und versuchen jetzt, mich zu töten.«
»Es war ein ordentliches Bestechungssümmchen«, sagte Berrigan.
»Das ist gar nichts im Vergleich zu dem Reichtum, den Skavadales Braut mit in die Ehe bringt«, sagte Sandman, »und diese Heirat hat die Countess gefährdet. Also musste sie sterben, und jetzt muss Corday sterben, weil das Verbrechen dann in Vergessenheit gerät.«
»Ja«, räumte Berrigan ein. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum sie diese Meg nicht umgebracht haben. Wenn sie in dem Mädchen eine Gefahr gesehen hätten, hätten sie sie nicht leben lassen.«
»Vielleicht haben sie sie ja getötet«, räumte Sandman ein.
»Dann ist das alles hier reine Zeitverschwendung«, sagte Berrigan finster.
»Aber ich glaube nicht, dass sie Meg bis nach Nether Cross gebracht haben, um sie zu töten«, überlegte Sandman.
»Was machen sie dann mit ihr?«
»Vielleicht haben sie ihr eine Unterkunft geboten«, vermutete Sandman, »eine behagliche Wohnung, damit sie nicht verrät, was sie weiß.«
»Dann ist sie jetzt die Erpresserin?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sandman, als er aber darüber nachdachte, erschien ihm Berrigans Schlussfolgerung, dass Meg Skavadale jetzt erpresste, durchaus schlüssig. »Vielleicht«, sagte er, »und wenn sie ein bisschen Verstand hat, verlangt sie nicht zu viel, und sie lassen ihr das Leben.«
»Wenn sie ihn tatsächlich erpresst, wird sie uns wohl kaum die Wahrheit sagen«, vermutete Berrigan. »Sie hat Skavadale fest in der Hand, nicht wahr? Sie kann die Fäden ziehen. Warum sollte sie all das aufgeben, um einer verdammten Schwuchtel das Leben zu retten?«
»Weil wir an das Gute in ihr appellieren werden«, sagte Sandman.
Berrigan lachte hämisch. »Na ja, dann ist ja alles geklärt!«
»Bei Ihnen hat es gewirkt, Sergeant«, erinnerte Sandman ihn.
»Das war wegen Sally.« Berrigan stockte und sagte dann verlegen: »Wissen Sie noch, an dem Abend im Wheatsheaf? Da dachte ich, Sie wären mit ihr zusammen.«
»Leider nein«, sagte Sandman, »ich bin bereits versprochen, und Sally gehört ganz Ihnen, Sergeant. Ich glaube, Sie sind ein überaus glücklicher Mann. Ebenso wie ich. Aber ich bin müde.« Er kroch unter die Kutsche und stieß sich den Kopf an der Vorderachse. »Nach Waterloo dachte ich, ich würde nie wieder im Freien schlafen müssen.«
Das Gras unter der Kutsche war trocken. Die Federung quietschte, als einer der Gefangenen sich umdrehte, die Pferde stampften und der Wind seufzte in einem nahe gelegenen Hain. Sandman dachte an die unzähligen Nächte, die er unter freiem Himmel verbracht hatte, und als er schon glaubte, in dieser Nacht keinen Schlaf finden zu können, fielen ihm die Augen zu.