8
Früh am nächsten Morgen brachte Sally ihnen einen Korb mit Speck, hart gekochten Eiern, Brot und einem Krug kalten Tee, und sie teilten das Frühstück mit ihren Gefangenen. Mackeson, der Kutscher, nahm sein Schicksal ergeben hin. »Du hast keine große Wahl, was?«, sagte er zu Berrigan. »Du musstest uns gefangen nehmen, aber es wird dir nicht gut bekommen, Sam.«
»Warum nicht?«
»Hast du je einen Lord am Galgen baumeln sehen?«
»Earl Ferres wurde gehenkt«, schaltete Sandman sich ein, »wegen Mordes an seinem Diener.«
»Nein!«, sagte Sally ungläubig. »Sie haben einen Earl aufgehängt? Wirklich?«
»Er fuhr mit seiner eigenen Kutsche zur Hinrichtung«, erzählte Sandman, »in seinem Hochzeitsanzug.«
»Tod und Teufel!« Sie freute sich offensichtlich darüber. »Ein Lord, was?«
»Aber das ist schon lange her«, tat Mackeson den Einwand ab, »schon sehr, sehr lange.« Sein Schnurrbart, den Sandman gestern so schneidig gewichst gesehen hatte, hing nun schlaff und strähnig herunter. »Und was passiert jetzt mit uns?«, fragte er finster.
»Wir fahren nach Nether Cross«, sagte Sandman, »wir holen das Mädchen, und anschließend fahren Sie uns zurück nach London, wo ich euren Arbeitgebern in einem Brief mitteilen werde, dass eure Abwesenheit erzwungen war.«
»Das wird auch was nützen«, grummelte Mackeson.
»Du bist Kutscher, Mack, du findest schon eine Arbeit«, sagte Berrigan. »Die ganze Welt könnte verhungern, aber für einen Kutscher gibt es immer Arbeit.«
»Zeit, aufzubrechen«, sagte Sandman mit einem Blick auf den dämmrigen Himmel. Leichter Nebel driftete über die Heide, als sie die vier Pferde an einem Steintrog tränkten und wieder zur Kutsche führten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihnen das Geschirr mit Zaumzeug, Bauchgurten, Rückengurten, Martingalen, Kummets, Zugriemen, Schwanzriemen und Stirnbändern wieder angelegt hatten. Nachdem Mackeson und Billy die Pferde eingespannt hatten, ließ Sandman den Jüngeren Schuhe und Gürtel ausziehen. Der Stallknecht hatte darum gebeten, ihm die Fesseln an Händen und Füßen zu lösen, und Sandman hatte eingewilligt, aber ohne Schuhe und mit einer Hose, die ständig auf die Knie zu rutschen drohte, würde der Junge schwerlich flüchten können. Sandman und Sally setzten sich mit dem verlegenen Billy in die Kutsche, während Mackeson und Berrigan auf den Bock stiegen. Unter Gerassel und Geklimper fuhren sie mit einem Ruck an und holperten über das Gras auf die Straße. Sie waren wieder unterwegs.
Sie fuhren nach Südosten, vorbei an Hopfenfeldern, Obstwiesen und großen Landgütern. Gegen Mittag war Sandman gegen seinen Willen eingeschlafen und fuhr erschrocken auf, als die Kutsche durch eine ausgefahrene Spur rumpelte. Blinzelnd sah er, dass Sally seine Pistole genommen hatte und den gründlich eingeschüchterten Billy anstarrte. »Sie können ruhig schlafen, Captain«, sagte sie.
»Tut mir Leid, Sally.«
»Er hat sich nicht getraut, was zu machen«, sagte Sally höhnisch, »nicht, nachdem ich ihm erzählt habe, wer mein Bruder ist.«
Sandman schaute aus dem Fenster und sah, dass sie einen Hang in einem Buchenwald hinauffuhren. »Ich dachte gestern Nacht, wir würden ihm vielleicht begegnen.«
»Er geht nicht gern über den Fluss«, erklärte Sally, »er arbeitet nur auf den Straßen gen Norden und Westen.« Sie sah, dass er wieder völlig wach war, und gab ihm seine Pistole zurück. »Glauben Sie, dass ein Mann, der auf die schiefe Bahn geraten ist, wieder anständig werden kann?«, fragte sie.
Sandman ahnte, dass die Frage nicht ihrem Bruder galt, sondern Berrigan. Nicht dass der Sergeant auf die schiefe Bahn geraten war, wenn man es an den Maßstäben des Wheatsheaf maß, aber als Diener der Seraphim hatte er gewiss seinen Teil an Verbrechen begangen. »Sicher kann er das«, erklärte Sandman zuversichtlich.
»Das schaffen nicht viele«, wandte Sally ein, aber nicht als Gegenargument, vielmehr wollte sie beruhigt werden.
»Wir alle müssen sehen, wie wir unseren Lebensunterhalt bestreiten, Sally«, sagte Sandman. »Und wenn wir ehrlich sind, möchte keiner von uns allzu hart arbeiten. Das macht ja den Reiz der schiefen Bahn aus, nicht wahr? Dein Bruder kann davon leben, dass er nur eine von drei Nächten arbeitet.«
»Er ist eben Jack.« Sie klang etwas trostlos, und statt Sandman in die Augen zu sehen, schaute sie durch das staubige Fenster auf eine Obstwiese.
»Vielleicht wird Ihr Bruder ja gesetzter, wenn er die richtige Frau trifft«, versuchte Sandman sie zu trösten. »Das ist bei vielen Männern so. Anfangs sind sie Gauner, aber dann suchen sie sich anständige Arbeit, und zwar häufig, nachdem sie eine Frau kennen gelernt haben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele meiner Soldaten echte Taugenichtse waren’, verdammte Dummköpfe, die dem Feind mehr genützt haben als uns, und dann trafen sie ein spanisches Mädchen, das nur halb so viel wog wie sie, und innerhalb einer Woche waren sie vorbildliche Soldaten.« Als sie ihn ansah, lächelte er. »Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen, Sally.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Sind Sie ein guter Menschenkenner, Captain?«
»Ja, Sally, das bin ich.«
Sie lachte und schaute Billy an. »Mach die Klappe zu, dass du keine Fliegen fängst. Und hör auf, Privatgespräche zu belauschen!«
Er wurde rot und starrte auf eine Hecke, die am Fenster vorüberzog. Da sie die Pferde nicht wechseln konnten, zügelte Mackeson die Reisegeschwindigkeit. Sie kamen nur langsam voran, zumal die Straße schlecht war und sie jedes Mal an den Rand fahren mussten, wenn ein Horn verkündete, dass eine Post- oder Frachtkutsche hinter ihnen war. Die Postkutschen kündeten ihr Herannahen mit dramatischem Hörnerklang an, und dann rasten die leichten Fahrzeuge mit der hohen Federung schaukelnd wie ein Artilleriegeschütz vorbei. Sandman beneidete sie um ihre Geschwindigkeit und machte sich Gedanken über die Fahrtdauer, aber dann sagte er sich, dass schließlich erst Samstag sei, und sofern Meg sich tatsächlich in Nether Cross versteckt hielte, dürften sie bis Sonntagabend wieder in London sein und genügend Zeit haben, Lord Sidmouth aufzutreiben und für Cordays Begnadigung zu sorgen. Der Innenminister hatte gesagt, er wolle am Tag des Herrn nicht mit Geschäften behelligt werden, aber Sandman scherte sich keinen Deut um die Gebete Seiner Lordschaft. Er hätte die gesamte Regierung von ihren Gebeten abgehalten, wenn er damit der Gerechtigkeit dienen könnte.
Im Laufe des Vormittags tauschte Sandman den Platz mit Berrigan. Nun bewachte er den Kutscher und knöpfte seinen Rock auf, um ihm seine Pistole zu zeigen, aber der Mann war eingeschüchtert und lammfromm. Er lenkte die Kutsche über immer schmalere Straßen unter dicht belaubten Bäumen hindurch, sodass er und Sandman sich ständig unter tief hängenden Asten ducken mussten. An einer Furt hielten sie, um die Pferde trinken zu lassen, und Sandman beobachtete die schillernden Libellen, die zwischen den hohen Binsen flatterten, bis Mackeson mit der Zunge schnalzte und die Pferde die Kutsche spritzend durch das Wasser zogen. Es ging zwischen warmen Feldern bergan, wo Männer und Frauen mit Sensen Getreide mähten. Gegen Mittag machten sie an einem Gasthof Halt, und Sandman kaufte Bier, Brot und Käse, die sie während der letzten Meilen der Fahrt aßen und tranken. Sie kamen an einer Kirche in hochzeitlichem Blumenschmuck vorbei und ratterten durch ein Dorf, wo Männer auf einer Wiese Kricket spielten. Sandman beobachtete das Spiel, solange die Kutsche am Rand der Wiese entlangholperte. Es war ländliches Kricket, das weit vom Raffinement des Londoner Spiels entfernt war. Die Spieler benutzten hier nur zwei Torpfosten mit einer breiten Querlatte und warfen ausschließlich von unten, aber der Schlagmann hatte eine gute Haltung und ein gutes Auge, und Sandman hörte die Männer jubeln, als der Mann einen schlechten Wurf zur Strafe in einen Ententeich beförderte. Ein kleiner Junge planschte hinein, um ihn zu holen. Mackeson lenkte die Pferde mit mühelosem Geschick zwischen zwei Backsteinmauern durch, vorbei an zwei Hopfendarren in eine schmale Gasse, die steil durch einen dichten Eichenwald führte. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte er.