»Sie haben den Weg erstaunlich gut wiedergefunden«, lobte Sandman den Kutscher in ehrlicher Bewunderung, denn angesichts der gewundenen Route hatte er sich schon gefragt, ob Mackeson sie bewusst in dem Gewirr kleiner Straßen in die Irre führen wollte, aber an der letzten Abzweigung hatte er ein Hinweisschild nach Nether Cross gesehen.
»Ich bin die Strecke ein halbes Dutzend Mal mit Seiner Lordschaft gefahren«, erklärte Mackeson und schaute Sandman zögernd an. »Und was passiert, wenn Sie die Frau nicht finden?«
»Wir werden sie finden«, sagte Sandman. »Sie haben sie schließlich hergebracht, oder nicht?«
»Das ist schon lange her, Meister«, sagte Mackeson.
»Wie lange?«
»Fast sieben Wochen«, antwortete der Kutscher. Sandman überschlug, dass man Meg unmittelbar nach dem Mord, also einen vollen Monat vor dem Prozess gegen Corday aufs Land gebracht haben musste. »Ganze sieben Wochen ist das her«, fuhr Mackeson fort, »und in sieben Wochen kann alles passieren, oder?« Er warf Sandman einen verstohlenen Blick zu. »‘Vielleicht ist Seine Lordschaft ja hier? Das würde Ihnen die Suppe schön versalzen, was?«
Sandman hatte tatsächlich schon befürchtet, dass Skavadale auf seinem Landsitz in Nether Cross sein könnte, fand es aber sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Entweder er war da und man musste sich mit ihm auseinander setzen, oder nicht. Wesentlich größere Sorgen machte Sandman die Vorstellung, dass Meg verschwunden sein könnte. Vielleicht war sie tot? Wenn sie Skavadale tatsächlich erpresste, lebte sie vielleicht in ländlichem Luxus und würde ihr neues Leben nicht aufgeben wollen. »Was für ein Haus ist es?«, fragte er den Kutscher.
»Es ist nicht so wie die großen Güter im Norden«, antwortete Mackeson. »Dieses hier haben sie früher mal durch eine Heirat bekommen, habe ich gehört.«
»Komfortabel?«
»Besser als alles, wo Sie oder ich je wohnen werden«, sagte Mackeson und schnalzte mit der Zunge. Die Pferde spitzten die Ohren und bogen, als er mit dem Führungszügel zuckte, gehorsam vor ein Tor zwischen hohen Steinpfeilern.
Sandman öffnete das Tor, das eingeklinkt, aber nicht verschlossen war, und schloss es wieder, nachdem die Kutsche durchgefahren war. Sobald er auf den Kutschbock gestiegen war, lenkte Mackeson die Pferde über die lange Zufahrt, die zwischen schönen Rotbuchen durch ein Wildgehege führte, bis sie eine kleine Brücke überquerte und vor einem kleinen elisabethanischen Haus mündete, das mit seinem schwarzen Fachwerk, dem weißen Putz und den roten Backsteinschornsteinen von erlesener Schönheit war. »Es heißt Cross Hall«, sagte Mackeson.
»Eine schöne Mitgift«, sagte Sandman neidvoll, denn das Haus wirkte in der Nachmittagssonne einfach vollkommen.
»Alles verschuldet, wie man sich erzählt«, sagte Mackeson. »Der Kasten verschlingt ein Vermögen. Ich muss mich um die Pferde kümmern. Sie brauchen Wasser, ordentliches Futter, müssen gestriegelt werden und ausruhen.«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte Sandman. Er musterte die Fassade. Keines der Fenster stand offen, was an diesem heißen Sommertag ein schlechtes Zeichen war, aber er sah ein Rauchwölkchen aus einem der hohen Schornsteine im hinteren Teil des Hauses aufsteigen, was ihn wieder hoffen ließ. Die Kutsche hielt, er sprang vom Bock und verzog das Gesicht, da sein verstauchter Knöchel bei der Belastung schmerzte. Berrigan öffnete den Wagenschlag und klappte mit dem Fuß den Tritt herunter, aber Sandman wies ihn an, zu warten und dafür zu sorgen, dass Mackeson nicht mit der Kutsche davonfuhr.
Sandman humpelte an die Haustür und hämmerte an die alte, dunkle Türfüllung. Er hatte kein Recht, hier zu sein, dachte er, vermutlich war sein Eindringen widerrechtlich. Er tastete nach dem Schreiben des Innenministeriums. Bisher hatte er es noch kein einziges Mal gebraucht, aber vielleicht würde es ihm nun helfen. Er klopfte noch einmal und trat zurück, um zu schauen, ob jemand aus einem der Fenster lauerte. Rund um den Eingang wuchs Efeu, und unter den Blättern über der Tür erkannte er im Putz schwach das Relief eines Wappenschildes mit fünf Kammmuscheln. Da sich niemand am Fenster zeigte, trat er wieder an die Tür, und hob gerade die Faust, um erneut zu klopfen, als sie sich öffnete und ein hagerer alter Mann zunächst ihn anstarrte und anschließend die Kutsche mit dem Wappen des Seraphim Clubs musterte. »Wir erwarten heute keine Besucher«, sagte er offensichtlich verwundert.
»Wir sind gekommen, um Meg abzuholen«, antwortete Sandman aus einem Impuls heraus. Der Mann – nach seiner Kleidung zu urteilen ein Dienstbote – hatte die Kutsche eindeutig erkannt und fand ihr Erscheinen keineswegs merkwürdig. Überraschend vielleicht, was den Zeitpunkt anging, aber nicht seltsam. Sandman hoffte, der Diener würde annehmen, dass der Marquess sie geschickt habe.
»Mir hat niemand gesagt, dass sie wegfährt.« Der Mann war misstrauisch.
»Nach London«, sagte Sandman.
»Und wer sind Sie?« Der Mann war groß und hatte ein runzeliges Gesicht, das von ungekämmtem, weißem Haar gerahmt war.
»Das habe ich doch schon gesagt. Wir sind gekommen, um Meg zu holen. Sergeant Berrigan und ich.«
»Sergeant?« Der Mann erkannte den Namen offenbar nicht, klang aber beunruhigt. »Sie haben einen Anwalt mitgebracht?«
»Er ist aus dem Club«, sagte Sandman und hatte den Eindruck, dass sie vollständig aneinander vorbeiredeten.
»Seine Lordschaft hat nichts davon gesagt, dass sie wegfährt«, wiederholte der Mann argwöhnisch.
»Er braucht sie in London«, erklärte Sandman.
»Dann hole ich das Mädchen«, sagte der Mann. Bevor Sandman reagieren konnte, schlug er so schnell die Tür zu und schob die Riegel vor, dass Sandman völlig verdutzt war. Er starrte immer noch die Tür an, als er eine Glocke im Inneren des Hauses hörte und wusste, dass sie Meg warnen sollte. Er fluchte.
»Verdammt guter Anfang«, sagte Berrigan sarkastisch.
»Aber die Frau ist hier«, antwortete Sandman, als er wieder an die Kutsche trat, »und er sagt, er will sie holen.«
»Wirklich?«
Sandman schüttelte den Kopf. »Verstecken wohl eher. Das bedeutet, wir müssen sie suchen, aber was machen wir mit diesen beiden hier?« Er deutete auf Mackeson.
»Wir erschießen die Kerle und verbuddeln sie«, knurrte Berrigan und erntete von Mackeson eine eindeutige Geste. Letzten Endes brachten sie die Kutsche zu den Pferdeställen, wo sie Boxen und Futterraufen leer vorfanden. Aber in einem der Backsteingebäude entdeckten sie einen fensterlosen Sattelraum mit solider Tür, in den sie Mackeson und den Stallknecht sperrten, während sie die Pferde eingespannt vor der Kutsche im Hof stehen ließen. »Wir kümmern uns später um sie«, erklärte Sandman.
»Dann sammeln wir auch ein paar Eier ein«, sagte Berrigan grinsend, denn auf dem Hof wimmelte es von Hühnern, einige schauten von der Dachkante, andere saßen auf den Fensterbänken, die meisten pickten Körner auf, die jemand auf das von Unkraut überwucherte und von Hühnerkot weiße Pflaster gestreut hatte. Ein Hahn beäugte sie vom Steigbock, zuckte mit dem Kamm und krähte aus voller Kehle, als Sandman mit Berrigan und Sally zur Hintertür von Cross Hall ging. Sie war verschlossen. Alle Türen waren verschlossen, aber das Haus war keine Festung, und Sandman entdeckte ein Fenster, das nicht richtig verriegelt war. Er rüttelte fest daran, bis es nachgab und er in ein kleines holzvertäfeltes Wohnzimmer mit leerem Kamin und mit Tüchern verhängten Möbeln klettern konnte. Berrigan folgte ihm. »Bleiben Sie draußen«, wies Sandman Sally an, die zwar nickte, aber ebenfalls durchs Fenster stieg. »Es könnte zum Kampf kommen«, warnte Sandman sie.