»Ich komme mit«, beharrte Sally. »Ich kann Hühner nicht ausstehen.«
»Das Mädchen könnte das Haus inzwischen verlassen haben«, sagte Berrigan.
»Ja«, bestätigte Sandman, aber er hatte das Gefühl, dass sie sich irgendwo im Haus versteckt hielt. »Wir suchen sie trotzdem.« Er öffnete die Tür, die auf einen langen getäfelten Gang führte. Im Haus war alles still. An den Wänden hingen keine Bilder, auf den dunklen Dielen, die bei jedem Schritt knarrten, lagen keine Teppiche. Sandman öffnete verschiedene Türen und sah, dass die wenigen verbliebenen Möbel mit Tüchern gegen den Staub abgedeckt waren. Eine elegante Treppe mit kunstvoll geschnitztem Endpfosten führte aus der Halle ins Obergeschoss, das Sandman im Dämmerlicht liegen sah, als er an der Treppe vorbei in den hinteren Teil des Hauses ging.
»Hier wohnt niemand außer den Hühnern«, sagte Sally, als sie auf weitere leere Räume stießen.
Sandman öffnete eine Tür und sah einen langen Esstisch, der mit Laken abgedeckt war. »Lord Alexander erzählte mir, dass sein Vater ein Haus, das ihm gehörte, einmal völlig vergessen hatte«, erzählte er Sally. »Es war ein großes Haus. Es moderte so vor sich hin, bis ihnen einfiel, dass es ihnen gehörte.«
»Nachlässiges Pack«, schimpfte Sally.
»Redest du von deinem Verehrer?«, fragte Berrigan amüsiert.
»Pass ja auf, Sam Berrigan«, entgegnete Sally. »Ich brauche nur mit dem kleinen Finger zu winken, dann werde ich Lady Soundso und du kannst vor mir katzbuckeln und Kratzfüße machen.«
»Ich werd dich schon kratzen, Mädchen, mit Vergnügen«, sagte Berrigan.
»Kinder, Kinder«, mahnte Sandman seine Gefährten und drehte sich abrupt um, als am Ende des Ganges eine Tür geöffnet wurde.
Der große, hagere Mann mit dem wilden, weißen Haarschopf stand mit einem Knüppel in der Tür. »Das Mädchen, das Sie suchen, ist nicht hier«, sagte er und hob halbherzig den Knüppel, als Sandman auf ihn zukam, ließ ihn aber dann sinken und schlurfte beiseite. Sandman schob sich an ihm vorbei in eine Küche mit großem, schwarzem Herd, Schrank und langem Tisch. Eine Frau, vermutlich die Ehefrau des hageren Mannes, saß am Kopfende des Tisches und rührte Teig in einer großen Porzellanschüssel. »Wer sind Sie?«, fragte Sandman den Mann.
»Der Verwalter«, antwortete er und mit einer Kopfbewegung zu der Frau: »Und meine Frau ist die Haushälterin.«
»Wann ist das Mädchen gegangen?«, fragte Sandman.
»Das geht Sie nichts an!«, fuhr die Frau ihn an. »Sie haben hier nichts zu suchen. Sie haben kein Recht, hier einzudringen! Also verschwinden Sie, bevor man Sie verhaftet.«
Sandman bemerkte eine Vogelflinte über dem Kaminsims. »Wer soll mich verhaften?«, fragte er.
»Wir haben nach Hilfe geschickt«, antwortete die Frau abwehrend. Ihr weißes Haar war straff nach hinten gekämmt und zu einem Knoten aufgesteckt, in ihrem harten Gesicht krümmte sich eine Hakennase zum spitzen Kinn. Ein Nussknackergesicht, dachte Sandman, ohne jede Menschlichkeit.
»Sie haben um Hilfe geschickt«, stellte Sandman fest, »aber ich komme vom Innenministerium. Von der Regierung. Ich besitze Amtsgewalt, und wenn Sie keinen Arger bekommen wollen, rate ich Ihnen, mir zu sagen, wo das Mädchen ist.«
Der Mann schaute seine Frau besorgt an, aber sie ließ sich von Sandmans Worten offenbar nicht beirren. »Sie haben hier drin gar kein Recht, Mister, also schlage ich vor, dass Sie gehen, bevor ich Sie für die Nacht einsperre!«
Sandman achtete gar nicht auf sie. Er öffnete die Tür zur Spülküche und schaute in einen Schrank, aber dort war Meg nicht versteckt. »Sie suchen hier unten weiter, Sergeant, ich schaue oben nach«, sagte er zu Berrigan.
»Glauben Sie wirklich, dass sie hier ist?«, fragte Berrigan skeptisch.
Sandman nickte. »Sie ist hier«, sagte er mit einer Sicherheit, die er nicht begründen konnte, aber er spürte, dass der Verwalter und seine Frau die Unwahrheit sagten. Zumindest der Verwalter hatte Angst. Seine Frau zwar nicht, aber der hagere Mann war viel zu nervös. Er hätte ebenso aufsässig wie seine Frau sein und Sandman des unbefugten Eindringens beschuldigen müssen, stattdessen benahm er sich wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Sandman lief die Treppe hinauf, um dort zu suchen.
Die Räume im Obergeschoss wirkten ebenso leer und verlassen wie die Zimmer im Erdgeschoss, aber am Ende des Korridors, unmittelbar neben einer schmalen Speichertreppe, gelangte Sandman in ein großes Schlafzimmer, das eindeutig bewohnt war. Auf dem dunklen Dielenboden lagen Teppiche, das schöne Himmelbett mit den fadenscheinigen Vorhängen war mit einem Laken bezogen und darüber lag eine zerwühlte Bettdecke. Frauenkleider hingen über einem Stuhl, weitere waren achtlos auf die beiden Bänke am offenen Fenster gehäuft, das jenseits eines Rasens und einer Backsteinmauer den Blick auf die erstaunlich nahe Kirche freigab. Eine rothaarige Katze schlief zwischen den Unterröcken auf einer der Fensterbänke. Megs Zimmer, dachte Sandman, und spürte, dass sie es eben erst verlassen hatte. Er ging an die Tür und schaute in den Flur, sah aber nichts außer tanzenden Staubflöckchen in den Strahlen der Spätnachmittagssonne.
Im Sonnenschein auf den unebenen Dielenbrettern erkannte er seine Fußabdrücke im Staub. Langsam ging er durch den Flur zurück und schaute noch einmal in jedes Zimmer. Im größten Schlafzimmer, das unmittelbar gegenüber der eleganten Treppe lag und einen breiten Kamin besaß, verziert mit sechs Vögeln in einem Wappenschild, entdeckte er weitere Spuren im Staub. Jemand war vor kurzem in diesem Zimmer gewesen, die Schritte führten zu dem steinernen Kamin, von dort zum Fenster, das dem Kamin am nächsten war, kehrten aber nicht wieder zurück zur Tür. Das Zimmer war leer, und die beiden Fenster geschlossen. Stirnrunzelnd betrachtete Sandman die Spuren und fragte sich, ob er sich vom Spiel aus Licht und Schatten in die Irre führen ließ, aber er hätte schwören können, dass es tatsächlich Fußabdrücke waren, die am Fenster endeten. Er ging hinüber, konnte es aber nicht öffnen, weil der eiserne Fensterrahmen festgerostet war. Meg war also nicht durch das Fenster entkommen, obwohl ihre Fußabdrücke, nun von Sandmans eigenen verwischt, hier endeten. Verdammt, dachte er, aber sie war hier! Er hob den Staubschutz des Bettes an und öffnete einen Schrank, aber niemand versteckte sich dort.
Er setzte sich auf das Fußende des Himmelbettes und starrte in den leeren Kamin, dessen Feuerraum von zwei rußgeschwärzten Hunden flankiert war. Aus einer Eingebung heraus ging er an den Kamin, beugte sich hinunter und schaute in den Rauchfang, aber der schwarze Schlot verengte sich rasch und verbarg niemanden. Meg war hier gewesen, dessen war er sicher.
Schritte auf der Treppe veranlassten ihn, sich aufzurichten und nach der Pistole zu greifen, aber es waren Berrigan und Sally, die in der Tür erschienen. »Sie ist nicht hier«, sagte Berrigan verärgert.
»Im Haus muss es unzählige Verstecke geben«, erklärte Sandman.
»Sie ist abgehauen«, meinte Sally.
Sandman setzte sich wieder auf das Bett und starrte auf den Kamin. Sechs Vögel auf einem Wappenschild, drei in der oberen Reihe, zwei in der mittleren und ein einzelner unten. Wieso hatte das Haus im Inneren dieses Wappen, aber außen ein Schild mit fünf Kammmuscheln? Fünf Muscheln. Er starrte die Vögel an, und plötzlich fiel ihm eine Melodie ein, eine Melodie und Fragmente eines Liedtextes, den er an einem Lagerfeuer in Spanien gehört hatte. »Ich gebe dir ein O«, sagte er.
»Was?«, fragte Berrigan, während Sally Sandman anstarrte, als habe er den Verstand verloren.
»Sieben für die sieben Sterne am Himmel«, sagte Sandman, »sechs für die sechs stolzen Wanderer.«