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Sandman antwortete mit einem wortlosen Kopfnicken. Es gab nichts zu sagen. Eine Großvateruhr tickte laut in einer Ecke des Büros.

»Sie waren in Sir Johns Bataillon in Waterloo, stimmt das?«, fragte Sidmouth.

»Ja, Mylord.«

Sidmouth knurrte, als habe er nicht viel für Männer übrig, die in Waterloo waren, und Sandman überlegte, dass dies durchaus denkbar war, da Großbritannien sich mittlerweile in zwei Lager zu spalten schien, in die Männer, die gegen die Franzosen gekämpft hatten, und jene, die zu Hause geblieben waren. Die Letzteren waren neidisch, vermutete Sandman, und deuteten ganz gern an, sie hätten die Chance verpasst, sich im Ausland zu amüsieren, weil schließlich jemand den Wohlstand Britanniens habe sicherstellen müssen. Die Kriege gegen Napoleon lagen inzwischen zwei Jahre zurück, aber diese Kluft hielt sich beharrlich, obgleich Sir John Colborne einen gewissen Einfluss bei der Regierung besitzen musste, wenn seine Empfehlung bewirkt hatte, dass man Sandman zum Innenminister rief. »Sir John teilt mir mit, dass Sie eine Anstellung suchen?«, fragte der Innenminister.

»Ich muss, Mylord.«

»Muss?«, hakte Sidmouth nach. »Muss? Sie beziehen doch als ehemaliger Offizier sicher ein Ruhegeld? Und Ruhegeld ist kein geringes Einkommen, möchte ich meinen?« Die Frage klang säuerlich, als missbillige Seine Lordschaft zutiefst, dass Pensionen an Männer gezahlt wurden, die durchaus imstande waren, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

»Ich habe keinen Anspruch auf Ruhegeld, Mylord«, sagte Sandman. Er hatte sein Offizierspatent verkauft und wegen der Friedenszeiten weniger dafür erzielt, als er erhofft hatte, aber es hatte gereicht, um ein Haus für seine Mutter zu pachten.

»Sie haben keine Einkünfte?«, fragte Sebastian Witherspoon, der Privatsekretär des Innenministers, von seinem Stuhl neben dem Schreibtisch seines Herrn.

»Nur geringe«, antwortete Sandman, hielt es aber für besser, nicht zu sagen, dass er sein kleines Einkommen mit Kricket verdiente. Der Viscount Sidmouth wirkte nicht wie ein Mann, der so etwas billigen würde. »Nicht genug«, berichtigte Sandman seine Antwort, »und ein großer Teil dieser Einkünfte fließt in die Begleichung kleinerer Schulden meines Vaters. Schulden bei Kaufleuten«, fügte er für den Fall hinzu, dass der Innenminister annehmen könnte, er versuche die beträchtlichen Summen abzuzahlen, die er wohlhabenden Investoren schuldete.

Witherspoon runzelte die Stirn. »Rechtlich sind Sie nicht für die Schulden Ihres Vaters verantwortlich, Sandman.«

»Ich bin für den guten Namen meiner Familie verantwortlich«, antwortete Sandman.

Lord Sidmouth schnaubte verächtlich, sei es als Hohn über Sandmans guten Namen, als ironische Antwort auf seine offenkundigen Skrupel oder, was wahrscheinlicher war, als Kommentar zu Sandmans Vater, der sich angesichts einer drohenden Inhaftierung oder Verbannung wegen seiner hohen Schulden das Leben genommen, seinem Namen Schande gemacht und seine Frau und seine Familie ruiniert zurückgelassen hatte. Der Innenminister musterte Sandman lange und säuerlich und schaute dann zu der Schmeißfliege, die gegen das Fenster flog. Die Großvateruhr tickte hohl. Im Zimmer war es heiß. Sandman spürte unbehaglich den Schweiß, der sein Hemd durchnässte. Das Schweigen zog sich in die Länge, während der Innenminister, wie Sandman vermutete, abwog, ob es klug sei, dem Sohn Ludovic Sandmans eine Stellung anzubieten. Fuhrwerke rumpelten unter dem Fenster vorbei. Hufgeklapper durchschnitt die Luft. Endlich kam Lord Sidmouth zu einer Entscheidung: »Ich brauche einen Mann für eine Aufgabe, aber ich sollte Ihnen gleich sagen, dass es sich nicht um eine dauerhafte Position handelt. Es ist keineswegs dauerhaft.«

»Es ist alles andere als dauerhaft«, warf Wither­spoon ein.

Sidmouth wirkte verdrossen über den Beitrag seines Sekretärs. »Die Position ist durchaus vorübergehend«, sagte er mit einer Geste auf einen großen, hüfthohen Korb, der voller Papiere auf dem Teppich stand. Manche waren gerollt, andere gefaltet und mit Siegellack verschlossen, während einige ihren Anspruch auf amtlichen Charakter durch rotes Band kenntlich machten. »Das sind Petitionen, Captain«, erklärte Lord Sidmouth in einem Ton, der seine Verachtung für Bittschriften unverhohlen zum Ausdruck brachte. »Ein verurteilter Verbrecher kann an den Regenten ein Gnadengesuch stellen oder sogar um vollständigen Straferlass ersuchen. Das ist ihr Vorrecht, Captain, und sämtliche Petitionen dieser Art aus ganz England und Wales landen in diesem Büro. Wir bekommen davon alljährlich an die zweitausend! Anscheinend gelingt es jedem zum Tode Verurteilten, in seinem Namen eine Petition einreichen zu lassen, und alle müssen gelesen werden. Werden sie nicht alle gelesen, Witherspoon?«

Sidmouth’ Sekretär, ein junger, pausbäckiger Mann mit stechenden Augen und eleganten Manieren, nickte. »Sicher werden sie geprüft, Mylord. Es wäre nachlässig von uns, solche Bitten unbeachtet zu lassen.«

»Nachlässig, wahrhaftig«, sagte Sidmouth feierlich, »und wenn das Verbrechen nicht allzu abscheulich ist, Captain, und wenn Personen von Stand bereit sind, sich für den Verurteilten zu verwenden, zeigen wir eventuell Milde. Wir verwandeln möglicherweise ein Todesurteil in, sagen wir, eine Verbannung.«

»Sie, Mylord?«, fragte Sandman, verwundert über das Wörtchen »wir«.

»Die Petitionen sind an den König gerichtet«, erklärte der Innenminister, »aber die Entscheidung liegt im Grunde bei mir. Meine Entscheidungen werden anschließend vom Kronrat ratifiziert, und ich kann Ihnen versichern, Captain, ich meine ratifiziert, nicht in Frage gestellt.«

»Wahrhaftig nicht!« Witherspoon klang amüsiert.

»Ich entscheide«, erklärte Sidmouth gehässig. »Es gehört zu den Zuständigkeiten dieses hohen Amtes, Captain, zu entscheiden, wer hingerichtet und wer verschont wird. In Australien gibt es Hunderte Seelen, die ihr Leben diesem Amt verdanken, Captain.«

»Und ich bin sicher, dass ihre Dankbarkeit keine Grenzen kennt«, warf Witherspoon aalglatt ein.

Sidmouth schenkte seinem Sekretär keine Beachtung, sondern schob Sandman eine mit Band versehene Schriftrolle zu. »Und ab und an, allerdings äußerst selten, veranlasst eine Petition uns zu einer Untersuchung des Sachverhalts. In diesen seltenen Fällen beauftragen wir jemanden mit einer Untersuchung, allerdings tun wir das nur ungern, Captain.« Er stockte, offensichtlich um Sandman Gelegenheit zu der Frage zu geben, warum das Innenministerium nur widerstrebend eine Untersuchung einleitete, aber diese Frage kam Sandman anscheinend nicht in den Sinn, während er das Band der Schriftrolle entfernte. »Ein zum Tode Verurteilter hat in jedem Fall ein Gerichtsverfahren hinter sich«, erklärte der Innenminister dennoch. »Er oder sie wurde von einem Gericht für schuldig befunden und verurteilt, und es ist nicht Aufgabe der Regierung Seiner Majestät, Fakten zu überprüfen, die von einem ordentlichen Gericht festgestellt wurden. Es entspricht nicht unserer Politik, die Gerichtsbarkeit zu untergraben, Captain, doch ab und an, äußerst selten, führen wir eine Untersuchung durch. Bei dieser Petition handelt es sich um einen dieser seltenen Fälle.«

Sandman entrollte die Bittschrift, die in bräunlicher Tinte auf billigem gelbem Papier geschrieben war. Er las: Gor ist mein Zeuge, er is ein guhter Junge. Er könnte nie die Lady Avebury umbringen, Got weis, das er nicht mal ner Fliege was thun könnte. In dieser Weise ging es noch lange weiter, aber Sandman konnte nicht länger lesen, da der Innenminister seine Erläuterungen fortsetzte.