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»Die Angelegenheit betrifft Charles Corday«, erklärte Lord Sidmouth. »Das ist nicht sein richtiger Name. Wie Sie selbst sehen, stammt die Petition von Cordays Mutter, die mit Cruttwell unterschreibt, aber der Junge hat offenbar einen französischen Namen angenommen. Weiß Gott, warum. Er wurde wegen Mordes an der Countess of Avebury verurteilt. Sie erinnern sich sicher an den Fall?«

»Ich fürchte nein, Mylord«, antwortete Sandman. Er hatte sich nie für Kriminalfälle interessiert, nie die Newgate Calendars gekauft oder die Handzettel gelesen, die berühmt berüchtigte Schurken und ihre verruchten Taten feierten.

»Da gibt es nichts Geheimnisvolles«, sagte der Innenminister. »Der Elende hat die Countess of Avebury vergewaltigt und erstochen, den Galgen also mehr als verdient. Wann soll die Hinrichtung stattfinden?«, fragte er Witherspoon.

»Heute in einer Woche, Mylord«, antwortete Witherspoon.

»Wenn es nichts Geheimnisvolles gibt, warum soll der Fall dann untersucht werden?«, erkundigte sich Sandman.

»Weil die Bittstellerin, Maisie Cruttwell«, Sidmouth sprach den Namen aus, als hinterließe er einen sauren Beigeschmack im Mund, »Näherin Ihrer Majestät, Queen Charlotte, ist und Ihre Majestät geruht hat, sich der Sache anzunehmen.« Lord Sidmouth’ Ton ließ deutlich erkennen, dass er die Ehefrau Königs George III. für diese Gnade am liebsten erwürgt hätte. »Es ist meine Aufgabe und meine Pflicht, Ihrer Majestät zu versichern, dass jede erdenkliche Überprüfung stattgefunden hat und an der Schuld des Elenden keinerlei Zweifel bestehen kann. Daher habe ich Ihrer Majestät geschrieben und ihr mitgeteilt, dass ich jemanden mit der Untersuchung betraue, der die Fakten prüft und somit sicherstellt, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Sidmouth hatte all diese Ausführungen in gelangweiltem Ton gemacht, deutete aber nun mit seinem knochigen Finger auf Sandman. »Ich frage Sie, ob Sie diese Untersuchung übernehmen wollen, Captain, und ob Sie begreifen, was hier von Nöten ist.«

Sandman nickte. »Sie möchten die Königin beruhigen, Mylord, und dazu müssen Sie sich von der Schuld des Gefangenen restlos überzeugen.«

»Nein!«, fuhr Sidmouth ihn an und klang aufrichtig erzürnt. »Ich bin bereits restlos von der Schuld des Mannes überzeugt. Corday, oder wie er sich nennen mag, wurde nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren verurteilt. Die Königin braucht diese Vergewisserung.«

»Ich verstehe«, sagte Sandman.

Witherspoon beugte sich vor. »Verzeihen Sie die Frage, Captain, aber Sie hegen doch keine radikalen Überzeugungen?«

»Radikal?«

»Sie haben doch keine Einwände gegen den Galgen?«

»Für einen Mann, der vergewaltigt und tötet?« Sandman klang verärgert. »Natürlich nicht.« Die Antwort war hinreichend ehrlich, obwohl Sandman in Wahrheit noch nicht viel über den Galgen nachgedacht hatte. Er hatte noch nie eine Hinrichtung gesehen, auch wenn er natürlich wusste, dass es in Newgate einen Galgen gab, einen zweiten auf der Südseite des Flusses im Gefängnis Horsemonger Lane und weitere in jeder Stadt mit einem Geschworenengericht in England und Wales. Gelegentlich hörte er Debatten, es gäbe zu viele Hinrichtungen oder es sei unsinnig, einen hungrigen Dörfler zu henken, weil er ein Lamm für fünf Schillinge gestohlen habe, aber nur wenige wollten den Galgen vollends abschaffen. Hinrichtungen dienten als Abschreckung, Strafe und Exempel. Sie waren notwendig. Sie waren ein Werkzeug der Zivilisation, das alle rechtschaffenen Bürger vor Rechtsbrüchigen schützte.

Witherspoon lächelte zufrieden über Sandmans verärgerte Antwort. »Ich habe Sie nicht für einen Radikalen gehalten«, sagte er beschwichtigend, »aber man muss sichergehen.«

»Also«, Lord Sidmouth warf einen Blick auf die Großvateruhr, »übernehmen Sie die Untersuchung?« Er erwartete eine umgehende Antwort, aber Sandman zögerte, nicht etwa, weil er den Auftrag nicht wollte, sondern weil er bezweifelte, ob er die Qualifikationen zur Untersuchung eines Verbrechens besaß. Andererseits überlegte er, wer sie wohl besitzen mochte. Lord Sidmouth deutete sein Zögern fälschlicherweise als Widerstreben. »Die Aufgabe dürfte Sie wohl kaum überfordern, Captain«, sagte er gereizt. »Der Elende ist eindeutig schuldig, und man wünscht lediglich, die weiblichen Bedenken der Königin auszuräumen. Ein Monatsgehalt für einen Tag Arbeit?« Er hielt inne und schnaubte. »Oder fürchten Sie, die Aufgabe könnte Sie von Ihrem Kricket abhalten?«

Da Sandman auf das Geld angewiesen war, überhörte er die Beleidigungen. »Selbstverständlich übernehme ich die Aufgabe, Mylord. Es ist mir eine Ehre.«

Witherspoon stand auf zum Zeichen, dass die Audienz beendet war, und der Innenminister entließ ihn mit einem Kopfnicken. »Witherspoon wird Ihnen eine Vollmacht ausstellen. Ich erwarte Ihren Bericht. Guten Tag, Sir.«

»Zu Diensten, Mylord.« Sandman verbeugte sich, aber der Innenminister hatte sich bereits anderen Aufgaben zugewandt.

Sandman folgte dem Sekretär in ein Vorzimmer, wo ein Schreiber emsig beschäftigt war. »Es wird einen Augenblick dauern, Ihre Vollmacht zu versiegeln. Nehmen Sie bitte Platz«, sagte Witherspoon.

Sandman hatte die Corday-Petition mitgenommen und las sie nun in Ruhe durch, fand in den vielen falsch geschriebenen Worten jedoch kaum Erhellendes. Die Mutter des Verurteilten hatte lediglich unzusammenhängende Bitten um Gnade diktiert und mit einem Kreuz unterzeichnet. Ihr Sohn sei ein guter Junge, behauptete sie, eine harmlose Seele und ein Christenmensch, aber unter der Bittschrift standen zwei vernichtende Bemerkungen. Die erste lautete: Lächerlich, er ist eines abscheulichen Verbrechens schuldig. Der zweite Kommentar in unleserlicher Handschrift besagte: Lassen wir dem Gesetz seinen Lauf. Sandman zeigte Witherspoon die Petition. »Wer hat diese Anmerkungen geschrieben?«

»Die zweite ist die Entscheidung des Innenministers«, sagte Witherspoon, »geschrieben, bevor wir wussten, dass Ihre Majestät involviert ist. Und die erste? Sie stammt von dem Richter, der das Urteil gefällt hat. Es ist üblich, alle Petitionen an den betreffenden Richter weiterzureichen, bevor eine Entscheidung gefällt wird. In diesem Fall war das Sir John Silvester. Kennen Sie Ihn?«

»Ich furchte, nein.«

»Er ist der Strafrichter von London und, wie Sie daraus schließen dürfen, ein überaus erfahrener Richter. Gewiss kein Mann, der in seinem Gerichtssaal einen groben Gesetzesverstoß zulassen würde.« Er reichte dem Schreiber einen Brief. »Die Vollmacht muss selbstverständlich auf Ihren Namen ausgestellt sein. Gibt es Fallstricke in der Schreibweise?«

»Nein«, sagte Sandman. Während der Schreiber seinen Namen in die Vollmacht eintrug, las er die Petition noch einmal, aber sie lieferte keine sachdienlichen Argumente gegen den Urteilsspruch. Maisie Cruttwell behauptete, ihr Sohn sei unschuldig, konnte aber keinen Beweis dafür erbringen. Vielmehr richtete sie ein Gnadengesuch an den König. »Wieso haben Sie eigentlich mich gefragt?«, erkundigte Sandman sich bei Witherspoon. »Ich meine, Sie haben doch sicher schon früher Untersuchungen von anderen durchführen lassen? War ihre Arbeit nicht zufriedenstellend?«

»Mister Talbot arbeitete durchaus zufriedenstellend«, antwortete Witherspoon, während er nach dem Siegel suchte, das die Echtheit der Vollmacht beglaubigen würde. »Aber er ist gestorben.«

»Ach.«

»Ein Schlaganfall«, sagte Witherspoon, »sehr tragisch. Und wieso Sie? Weil, wie der Innenminister Ihnen bereits gesagt hat, Sie empfohlen wurden.« Er kramte in einer Schublade nach dem Siegel. »Ich hatte einen Cousin in Waterloo«, fuhr er fort, »einen Captain Witherspoon, Husar. Er gehörte zum Stab des Herzogs. Kannten Sie ihn?«