Aber Maschinen blieben Maschinen. Im Institut von Akademogorsk hatte die junge S. Ya. Laworowna sehr gründlich gelernt, dass Maschinenintelligenz nichts »Persönliches« war. Man baute sie zusammen, von Addiermaschinen bis zu Zahlenzerhackern. Man stopfte sie voll mit Daten. Man konstruierte für sie einen Speicher mit passenden Reaktionen auf Reize und stattete sie mit einer hierarchischen Skala von Angemessenheit aus; und das war auch schon alles. Ab und zu wurde man von dem überrascht, was aus einem Programm wurde, das man selbst geschrieben hatte, gewiss. Natürlich kam das vor; das gehörte dazu. Nichts davon deutete auf das Vorhandensein freien Willens aufseiten der Maschine oder auf Persönlichkeitsstrukturen hin.
Trotzdem war es rührend zu sehen, wie er mit seinen Programmen Späße machte. Er war ein rührender Mann, weil er in mancher Beziehung sehr dem einzigen anderen Mann in ihrem Leben glich, der ihr jemals etwas bedeutet hatte: ihrem Vater.
Als Semya Yagrodna ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sich alles um ihren Vater gedreht – um diesen hoch gewachsenen, hageren alten Mann, der Ukulele und Mandoline spielte und im Gymnasium Biologie lehrte. Er genoss es zutiefst, ein kluges und wissbegieriges Kind zu haben. Es hätte ihm vielleicht noch mehr Freude gemacht, wenn ihre Begabung sie zu den Bio-Wissenschaften gezogen hätte statt zu Physik und Technik, aber trotzdem war sie sein Ein und Alles. Er brachte ihr bei, wie es auf der Welt zuging, als er ihr keine Mathematik mehr beibringen konnte, weil sie ihn überflügelt hatte. »Du musst dir klar sein, womit du es zu tun bekommst«, hatte er ihr erklärt. »Selbst hier. Selbst jetzt. Selbst als ich zu Stalins Zeiten ein kleiner Junge war und die Frauenbewegung die Mädchen dazu bewog, MG-Kommandos zu leiten und Traktoren zu steuern. Es ist immer dasselbe, Semya. Es ist eine geschichtliche Tatsache, dass die Mathematik etwas für Jungen ist und dass Mädchen bis zum Alter von fünfzehn Jahren mit Buben auf einer Stufe stehen, manchmal auch bis zwanzig. Und dann, gerade wenn aus den Buben Lowatschewskis und Fermats werden, hören die Mädchen auf. Warum? Um Kinder zu bekommen. Um zu heiraten. Um weiß der Himmel was zu tun. Das lassen wir bei dir nicht zu, Täubchen. Studier du! Lies! Lerne! Begreife! Jeden Tag, so viele Stunden, wie du musst! Und ich werde dir helfen, wo ich kann.« Das tat er; und vom achten bis zum achtzehnten Lebensjahr kam die junge Semya Yagrodna Laworowna jeden Tag von der Schule heim, stellte eine Büchertasche in eine Ecke ihrer Wohnung und griff nach einer anderen, um zu dem alten gelben Haus am Newski-Prospekt zu traben, wo ihr Hauslehrer wohnte. Sie hatte die Mathematik nie aufgegeben, und dafür konnte sie ihrem Vater danken. Sie hatte auch nie das Tanzen gelernt oder tausenderlei Düfte und Schminken ausprobiert oder sich mit jungen Männern getroffen – nicht, bis sie nach Akademogorsk kam, und auch dafür musste sie ihrem Vater danken. Wo die Welt versuchte, sie in eine weibliche Rolle zu drängen, verteidigte er sie wie ein Tiger. Aber zu Hause musste gekocht und genäht werden, und man musste die Rosenholzstühle polieren, und nichts davon machte er. Ihr Vater hatte äußerlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit Robin Broadhead besessen … aber in anderer Beziehung war er ganz wie er gewesen!
Robin hatte sie gebeten, seine Frau zu werden, als sie sich noch nicht einmal ein Jahr gekannt hatten. Sie hatte ein weiteres Jahr gebraucht, um sich zu einem Ja zu entschließen. Sie hatte mit allen Leuten gesprochen, die davon wussten. Mit ihrer Zimmergenossin. Mit dem Vorstand ihrer Fakultät. Mit ihrem früheren Liebhaber, der das Mädchen von nebenan geheiratet hatte. Lass die Finger von dem, S. Ya., hatten sie alle erklärt. Auf Anhieb war das ein vernünftiger Rat, denn wer war er? Ein geistloser Millionär, immer noch einer Frau nachtrauernd, die er geliebt und auf grauenhafte Weise verloren hatte, schuldbeladen, Jahre intensiver Psychoanalyse hinter sich – was für eine perfekte Beschreibung des völlig hoffnungslosen künftigen Ehepartners! Aber, andererseits … nichtsdestoweniger …
Nichtsdestoweniger rührte er sie an. Sie waren bei eiskaltem Wetter nach New Orleans zum Mardi Gras gefahren, hatten fast den ganzen Tag im Café du Monde gesessen und den Umzug nicht einmal gesehen. Den Rest der Zeit blieben sie in ihrem Hotel, fern von Menschenmassen und Schneeregen, und liebten sich, kamen nur heraus, um gebackene Klöße mit Wolken von Puderzucker und süßen Milchkaffee mit Zichorie zum Frühstück zu verzehren. Robin gab sich Mühe, galant zu sein. »Wollen wir heute eine Flussfahrt machen? Eine Kunstgalerie besuchen? In einem Nachtklub tanzen gehen?« Aber sie konnte sehen, dass er das alles nicht tun wollte, dieser Mann, der doppelt so alt war wie sie und sie heiraten wollte. Und sie fällte ihre Entscheidung.
»Ich glaube, wir könnten stattdessen doch heiraten«, sagte sie.
Das hatten sie getan. Nicht an diesem Tag, aber sobald es ging. S. Ya. hatte es nie bedauert; es gab nichts zu bedauern. Nach den ersten Wochen hatte sie sich nicht einmal mehr Gedanken darüber gemacht, wie es ausgehen würde. Er war kein eifersüchtiger oder kleinlicher Mensch. Und wenn er oft in seiner Arbeit aufging – nun, bei ihr war es nicht anders.
Da gab es nur diese Frage nach jener Frau, Gelle-Klara Moynlin, der verlorenen großen Liebe.
Sie mochte ebenso gut tot sein. War auf jeden Fall so gut wie tot, weil sie für immer außerhalb jeder menschlichen Reichweite war. Man wusste sehr gut, dass dem so war, aufgrund der Gesetze der Physik … aber Essie war davon überzeugt, dass es Zeiten gab, in denen ihr Mann nicht daran glaubte.
Und dann stellte sie sich die Frage: Wenn jemals die Möglichkeit einer Wahl zwischen ihnen bestehen sollte, wie würde Robin sich entscheiden?
Und was, wenn die Gesetze der Physik hier und da doch eine Ausnahme zulassen sollten?
Da waren die Hitschi-Schiffe. Wie konnte man auf sie die bekannten Naturgesetze anwenden? Wie bei jedem anderen denkenden Menschen auf der Welt haben die von den Hitschi aufgeworfenen Fragen S. Ya. lange Zeit stark beschäftigt. Der Gateway-Asteroid war entdeckt worden, als sie noch die Schule besucht hatte. Die Schlagzeilen über neue Funde waren alle paar Wochen erschienen, ihre ganze Collegezeit hindurch. Manche ihrer Kommilitonen hatten es riskiert und sich auf die Theorie der Hitschi-Steuersysteme spezialisiert. Zwei davon befanden sich jetzt auf Gateway. Mindestens drei waren hinausgeflogen und nie zurückgekommen.
Die Hitschi-Schiffe waren durchaus steuerbar. Man konnte sie sogar ganz genau steuern. Die oberflächliche Mechanik des Ablaufs war bekannt. Jedes Schiff besaß fünf Hauptantriebs-Verniere und fünf Hilfselemente. Sie fanden Koordinaten im Weltraum (auf welche Weise?), und sobald sie eingestellt waren, flog das Raumschiff dorthin. Aber wie? Dann kam es unfehlbar zu seinem Ausgangsort zurück, oder doch in der Regel, wenn ihm nicht der Treibstoff ausging oder ihm ein Missgeschick zustieß – ein Triumph der Kybernetik, von dem S. Ya. wusste, dass kein menschliches Gehirn ihn nachvollziehen konnte. Das Problem dabei war, dass bis zu diesem Augenblick kein Mensch mit der Steuerung richtig umgehen konnte.
Aber was war mit dem nächsten oder dem übernächsten Augenblick? Während Informationen flossen, von der Nahrungsfabrik und aus dem Hitschi-Himmel; während Tote Menschen redeten; wenn es mindestens einen halbwegs erfahrenen menschlichen Piloten gab, Wan – bei alledem und vor allem bei der Flut neuen Wissens, die sich aus der Enträtselung der Gebetsfächer ergeben mochte …