Aber ich wusste, was es war.
Ich wusste, was es war, und ich wusste, was ich tun konnte – jedenfalls, was mein Körper tun konnte, wenn ich nur meinen Verstand fest genug zusammenzuhalten vermochte, um es zu schaffen. Ich zwang mich, einen Schritt zu tun, und noch einen. Ich trieb mich durch den weiten, langen Korridor, während Bover sich hinter mir am Boden wand und die Wachen vor mir völlig hilflos umhertaumelten. Ich wankte an ihnen vorbei und bezweifelte, dass sie mich überhaupt sahen, hinein in die schmale Lukenöffnung der Landekapsel, ich stürzte zerschlagen und durchgerüttelt hindurch, zwang mich, den Deckel über mir zu verriegeln.
Und da war ich, in dem vertrauten, katastrophal kleinen Loch, umgeben von Umrissen aus gewölbtem hellbraunem Kunststoff. Walthers hatte seine Arbeit wenigstens getan. Ich konnte ihn nicht dafür entlohnen, aber wenn er seine Hand in die Luke gesteckt hätte, kurz bevor ich sie schloss, hätte ich ihm eine Million gegeben.
Irgendwann starb der alte Peter Herter. Mit seinem Tod hörte die Qual nicht auf. Sie ging nur langsam zurück. Ich hätte nicht erraten können, wie es sein würde, sich im Gehirn eines Mannes zu befinden, während er spürt, wie sein Herz stillsteht und die Gewissheit des Todes in sein Hirn sticht. Es dauert viel länger, als ich für möglich gehalten hätte. Es dauerte die ganze Zeit an, während ich das Schiff startete und mit den kleinen Wasserstoffdüsen dorthinauf jagte, wo der Hitschi-Antrieb wirksam wurde. Ich riss und stemmte die Räder für die Kurseinstellung herum, bis sie das wohl einstudierte Muster zeigten, das Albert mich gelehrt hatte. Dann drückte ich die Startwarze und war unterwegs. Das ruckartige, unbehagliche Stoßen der Beschleunigung begann. Die Sternbilder, die ich gerade noch sehen konnte, wenn ich mir den Hals an einem Speichergerät verrenkte, begannen zu verschwimmen. Niemand konnte mich jetzt mehr aufhalten. Nicht einmal ich selbst.
Nach allen Daten, die Albert hatte sammeln können, würde der Flug genau zweiundzwanzig Tage dauern. Nicht sehr lange – es sei denn, man ist in ein Raumschiff gezwängt, das bereits vollgestopft war. Es gab Platz für mich – mehr oder weniger. Ich konnte mich ausstrecken. Ich konnte aufstehen. Ich konnte mich sogar hinlegen, wenn die wechselnde Schiffsbewegung mir zeigte, wo »unten« war, und es mir nichts ausmachte, zwischen Metallklötzen zusammengefaltet zu sein. Was ich die ganzen zweiundzwanzig Tage lang nicht tun konnte, war, in irgendeiner Richtung mich mehr als einen halben Meter weit zu bewegen – nicht zum Essen, nicht zum Schlafen, nicht zum Baden oder Kacken; zu gar nichts.
Ich hatte Zeit genug, um daran zu denken, wie erschreckend der Hitschi-Flug war, und alles von neuem zu erleben.
Es gab auch Zeit genug zum Lernen. Albert hatte darauf geachtet, alle Daten für mich aufzuzeichnen, nach denen ihn zu fragen ich nicht klug genug gewesen war, und diese Bänder lagen zum Abspielen für mich bereit. Sie waren nicht sehr interessant oder von guter Wiedergabequalität. Der PMAL-2 war nur ein Speicher: viel Gehirn, minimales Display. Es gab keinen dreidimensionalen Tank, nur ein Flachstereo-Brillensystem – wenn meine Augen es ertrugen – oder einen Bildschirm von der Größe meiner Handfläche, wenn das nicht möglich war.
Zunächst benützte ich das alles nicht. Ich lag einfach da und schlief, so viel ich konnte. Zum Teil erholte ich mich von dem Trauma von Peters Tod, der auf so grauenhafte Weise meinem eigenen geglichen hatte. Zum Teil experimentierte ich mit dem Inneren meines Schädels – ich erlaubte mir, Angst zu fühlen (wozu ich jeden Anlass hatte!), ermutigte mich, Schuldbewusstsein zu empfinden. Es gibt Arten von Schuldbewusstsein, von denen ich weiß, dass ich sie pflege: die Betrachtung unerfüllter Verpflichtungen und zurückgezogener Versprechungen. Da hatte ich Stoff zum Nachdenken genug, beginnend mit Peter (der fast mit Gewissheit noch am Leben gewesen wäre, wenn ich ihn nicht für diese Expedition genommen hätte) und schließend, oder nicht schließend, mit Klara in ihrem erstarrten Schwarzen Loch – nicht schließend, weil ich immer noch andere wusste. Diese Belustigung wurde bald schal. Zu meiner Überraschung kam ich dahinter, dass das Schuldbewusstsein gar nicht so überwältigend war, wenn ich es erst einmal herausließ; und damit war der erste Tag überstanden.
Dann beschäftigte ich mich mit den Bändern. Ich ließ mich von dem halben Albert, dem starren, nur halb belebten Zerrbild des Programms, das ich kannte und liebte, über Machs Prinzip belehren, über flotte Zahlen und seltsamere Formen astrophysikalischer Überlegungen, als ich sie mir je hätte träumen lassen. Ich hörte nicht richtig zu, ließ die Stimme aber über mich hinwegtönen, und das war der zweite Tag.
Dann schlürfte ich aus derselben Quelle, was über die Toten Menschen gespeichert war. Ich hatte schon vorher fast alles davon gehört. Ich hörte alles noch einmal. Ich hatte nichts Besseres zu tun, und das war der dritte Tag.
Dann gab es verschiedene Vorträge über den Hitschi-Himmel und die Herkunft der Alten und mögliche Strategien für den Umgang mit Henrietta und mögliche Gefahren von den Alten, gegen die man sich schützen musste, und das war der vierte Tag und der fünfte und sechste.
Ich begann mich zu fragen, wie ich davon zweiundzwanzig Stück ausfüllen sollte, also ließ ich mir alle Bänder noch einmal vorspielen, und das war der siebte Tag und der zehnte, und am elften …
Am elften schaltete ich den Computer ganz ab und grinste in freudiger Erwartung.
Der Tag des Wendepunkts. Ich hing in meinen Gurten und wartete auf die Befriedigung des einen Ereignisses, das dieser enge und vermaledeite Flug mir bringen konnte: den flirrenden Ausbruch goldener Lichtfunken in der Kristallspirale, die den Wendepunkt anzeigte. Ich wusste nicht genau, wann das eintreten würde. Vermutlich nicht in der ersten Stunde des Tages (so war es auch). Vermutlich auch nicht in der zweiten oder dritten … und so kam es. Nicht in diesen Stunden, auch nicht in der vierten, fünften oder denen danach. Es passierte am elften Tag überhaupt nicht.
Oder am zwölften.
Oder am dreizehnten.
Oder am vierzehnten; und als ich endlich die Daten eingab, um die Arithmetik zu überprüfen, die ich nicht im Kopf ausführen wollte, erklärte mir der Computer, was ich nicht zu wissen begehrte.
Es war zu spät.
Selbst wenn die Wende noch irgendwann eintrat – sogar in der nächsten Minute –, würde es nicht genug Wasser, Nahrung und Luft geben, um mich bis zum Ende durchhalten zu lassen.
Man kann sich einschränken. Das tat ich. Ich befeuchtete meine Lippen, statt zu trinken, schlief, so viel ich konnte, atmete so flach, wie es ging. Und endlich kam die Wendemarke – am neunzehnten Tag. Acht Tage zu spät.
Als ich die Zahlen in den Computer einspielte, kamen sie kalt und klar wieder.
Der Wendepunkt war zu spät gekommen. In neunzehn Tagen mochte das Schiff zwar im Hitschi-Himmel ankommen, aber nicht mit einem lebenden Piloten an Bord. Bis dahin würde ich mindestens schon sechs Tage tot sein.
Als sie lernte, mit den Alten zu sprechen, erschienen sie ihr eher als Einzelpersonen. Sie waren im Grunde auch gar nicht alt. Oder jedenfalls nicht die drei, die sie am häufigsten bewachten und ihr Essen brachten und sie zu ihren Sitzungen in der langen Nacht der Träume führten. Sie lernten, sie Janine zu nennen oder jedenfalls so, dass es ähnlich klang. Ihre eigenen Namen waren kompliziert, aber jeder Name besaß auch eine Kurzform – Tar oder Tor oder Huai –, und sie hörten darauf, wenn sie etwas brauchte oder auch während ihrer Spiele. Sie waren verspielt wie kleine Hündchen und ebenso besorgt. Wenn sie zermartert und schwitzend aus einem anderen Leben und einem neuen Tod aus dem grellblauen Kokon kam – aus einer anderen Lektion in diesem Lehrgang, den der Älteste ihr verordnet hatte –, war immer einer von ihnen da, um tröstend zu murmeln und sie zu streicheln.