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Aber es war nicht genug! Es gab nicht Trost genug, um gutzumachen, was immer und immer wieder in den Träumen geschah.

Jeder Tag war gleich. Ein paar Stunden unruhiger Schlaf, der nicht erfrischte. Eine Gelegenheit zum Essen. Vielleicht ein Spielchen Fangen oder Kitzeln mit Huai oder Tor. Vielleicht eine Gelegenheit, im Himmel herumzugehen, stets unter Bewachung. Dann zogen Tar oder Huai oder einer der anderen sie sanft zum Kokon zurück und steckten sie hinein, und stundenlang, manchmal, so schien es, für ein ganzes Leben, war Janine jemand anderer. Und was das für seltsame Wesen waren! Männlich. Weiblich. Jung. Alt. Wahnsinnig. Verkrüppelt – sie waren alle verschieden. Keiner von ihnen war ganz menschlich. Die meisten waren es überhaupt nicht, vor allem die ersten, ältesten Wesen.

Die Leben, die sie »träumte«, die zeitlich am nächsten waren, glichen dem ihren am meisten. Jedenfalls waren sie die Leben von Wesen nicht unähnlich Tor oder Tar oder Huai. Sie waren in der Regel nicht erschreckend, obwohl sie alle mit dem Tod endeten. In ihnen erlebte sie willkürliche und chaotische Fetzen der gespeicherten Erinnerungen an das kurze und gefahrenreiche oder langweilige und getriebene Leben, das diese Wesen gekannt hatten. Als sie die Sprache ihrer Bewacher zu verstehen begann, kam sie dahinter, dass die Lebenszeiten, die sie durchmachte, jene waren, die man eigens (nach welchen Kriterien?) für die Speicherung ausgewählt hatte. So besaß jede eine eigene Lektion. Alle Träume waren natürlich Lernerfahrungen für sie, und natürlich lernte sie. Sie lernte zu sprechen wie die Lebenden; ihre überschatteten Existenzen zu verstehen; ihr besessenes Bedürfnis des Gehorchens zu begreifen. Sie waren Sklaven! Oder Haustiere? Wenn sie taten, was der Älteste von ihnen verlangte, waren sie gehorsam und damit gut. Wenn sie, was selten vorkam, es nicht taten, wurden sie bestraft.

Dazwischen sah sie ab und zu Wan und von Zeit zu Zeit ihre Schwester. Sie wurden bewusst von ihr ferngehalten. Zunächst begriff sie nicht, warum, dann ging ihr ein Licht auf, und sie lachte im Stillen über den Witz, der zu geheim war, als dass sie ihn selbst mit dem lustigen Tor hätte teilen dürfen. Lurvy und Wan lernten auch und nahmen es nicht besser auf als sie.

Nach dem Ende der ersten sechs »Träume« konnte sie mit den Alten sprechen. Ihre Lippen und die Kehle vermochten ihre zirpenden, gemurmelten Vokale nicht ganz nachzubilden, aber sie konnte sich verständlich machen. Wichtiger noch, sie konnte ihren Befehlen folgen. Das ersparte Ärger. Wenn sie in ihre Zelle zurückkehren sollte, musste man sie nicht stoßen, und wenn sie baden sollte, brauchte man sie nicht auszuziehen. Nach der zehnten Lektion verkehrten sie beinahe freundschaftlich miteinander. Nach der fünfzehnten wusste sie (ebenso Lurvy und Wan) alles, was sie je über den Hitschi-Himmel erfahren konnte, einschließlich der Tatsache, dass die Alten weder jetzt noch früher Hitschi gewesen waren.

Nicht einmal der Älteste.

Und wer war der Älteste? Ihre Lektionen hatten sie das nicht gelehrt. Tar und Huai erklärten, so gut es ihnen gelang, dass der Älteste Gott sei. Das war keine befriedigende Antwort. Er war ein seinen Gläubigen zu ähnlicher Gott, um den Hitschi-Himmel oder irgendeinen Teil davon gebaut zu haben, seinen eigenen Körper eingeschlossen. Nein. Der Himmel war von den Hitschi erbaut, zu welchem Zweck, wussten nur die Hitschi, und der Älteste war kein Hitschi.

Während dieser ganzen Zeit war die riesengroße Maschine wieder bewegungslos, stillgelegt, beinahe tot, ihren schrumpfenden Lebensrest bewahrend. Wenn Janine durch die Mittelspindel ging, sah sie sie dort, still wie eine Statue. Ab und zu huschte um die Außensensoren ein träges Flackern blassen Lichts, so, als stehe sie im Begriff, aufzuwachen und sie vielleicht mit halb geschlossenen Augen zu beobachten. Wenn das geschah, beschleunigten Huai und Tar ihre Schritte. Dann gab es kein Kitzeln oder Fangen. Die meiste Zeit blieb die Maschine aber völlig regungslos. Janine kam eines Tages in ihrem Schatten an Wan vorbei – sie auf dem Weg zum Kokon, er auf dem Rückweg davon – und Huai wagte es, sie kurz miteinander sprechen zu lassen.

»Sie sieht erschreckend aus«, sagte Janine.

»Ich könnte sie für dich zerstören, wenn du willst«, prahlte Wan und blickte nervös über die Schulter auf die Maschine. Aber er hatte es auf Englisch gesagt und war klug genug, nicht für ihre Bewacher zu übersetzen. Doch selbst sein Tonfall beunruhigte Huai, und er trieb Janine weiter.

Janine gewann ihre Bewacher beinahe gern, wie das bei einem großen, sanften Eskimohund der Fall gewesen wäre, der sprechen konnte. Sie brauchte lange Zeit, um eine junge Frau wie Tar als jung oder weiblich anzusehen. Sie hatten alle das gleiche schüttere Gesichtshaar und die dicken Wülste über den Augenhöhlen, wie sie für den reifen männlichen Primaten typisch waren. Aber sie wurden mit der Zeit Einzelpersonen statt Exemplare der Gattung »Gefängniswärter«. Der breitere und dunkelhäutigere der beiden männlichen Wesen wurde »Tor« gerufen, aber das war nur eine Silbe eines langen und verwickelten Namens, von dem Janine lediglich das Wort »dunkel« verstand. Es bezog sich nicht auf seine Hautfärbung. Tor stutzte seinen Bart, sodass er in zwei nach innen gerollten Schnecken von seinem Kinn ragte. Tor machte die meisten Späße und versuchte seine Gefangenen daran teilhaben zu lassen. Tor war derjenige, welcher mit Janine Scherze machte und erklärte, wenn ihr männlicher Begleiter Wan so unfruchtbar sei, wie es den Anschein habe, solange man ihn mit Lurvy zusammensperre, werde er den Ältesten um Erlaubnis bitten, sie selbst befruchten zu dürfen. Janine behielt ihr Wissen über die Ursachen dieser Unfruchtbarkeit für sich; sie verspürte keine Angst. Sie fühlte sich auch nicht abgestoßen, weil Tor ein freundlicher Satyr war, und sie glaubte, den Scherz verstehen zu können. Trotzdem fing sie an, sich nicht länger als rotznäsiges Kind zu betrachten. Jeder lange Traum ließ sie altern. In ihnen erlebte sie den Geschlechtsverkehr, den sie im Leben nie gekannt hatte – manchmal als Frau, manchmal nicht –, und oft Schmerz und am Ende stets den Tod. Die Aufzeichnungen konnten nicht von lebenden Personen stammen, erklärte Huai in einem unverspielten Augenblick, und seine Art war durchaus nicht verspielt, als er beschrieb, auf welche Weise das Gehirn geöffnet und in die Maschine eingegeben wurde, die alle Aufzeichnungen vornahm. Sie wurde noch ein wenig älter, während er ihr das erzählte.

Als die Träume weitergingen, wurden sie fremdartiger und stammten aus ferneren Zeiten.

»Du gehst in sehr alte Zeiten«, sagte Tor zu ihr. »Der hier« – er führte sie zum Kokon – »ist der älteste und damit der letzte Traum. Vielleicht.«

Sie blieb vor der gleißenden Liege stehen.

»Ist das wieder ein Scherz, Tor, oder ein Rätsel?«

»Nein.« Er zupfte mit beiden Händen an seinem Doppelbart. »Dieser wird dir nicht gefallen, Janine.«

»Danke.«

Er grinste, und die Winkel seiner traurigen, sanften Augen zeigten Fältchen.

»Aber es ist der letzte, den ich dir geben kann. Vielleicht … vielleicht wird der Älteste dir dann einen Traum von seinen eigenen geben. Es heißt, dass er das manchmal getan hat, aber ich weiß nicht, wann. Nicht in der Erinnerung von irgendjemandem hier.«

Janine schluckte.

»Das klingt furchterregend«, meinte sie.

Er sagte gütig: »Dieses Erlebnis hat mich sehr erschreckt, Janine, aber denk daran, dass es für dich nur ein Traum ist.« Und er klappte den Kokon über ihr zu, und Janine kämpfte kurz gegen den Schlaf an und scheiterte wie immer … und war jemand anderer.

Es war einmal ein Wesen. Es war weiblich, aber kein »Es«, wenn man Descartes glauben darf, weil es sich seines eigenen Daseins bewusst war, und deshalb eine »Sie«.