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Sie hatte keinen Namen. Aber unter ihren Gefährten war sie gezeichnet durch eine große Narbe vom Ohr bis zur Nase, wo der Huf einer sterbenden Beute-Bestie sie beinahe getötet hätte. Das Auge auf dieser Seite war durch die Verletzung beeinträchtigt, und so mochte man sie »Schielauge« nennen.

Schielauge hatte ein Zuhause. Es war nichts Besonderes, nicht mehr als ein gestampftes Nest in einem hohen Büschel wie Papyrus, zum Teil geschützt durch einen Erdhügel. Aber Schielauge und ihre Verwandten kehrten jeden Tag in diese Behausungen zurück, und darin waren sie anders als alle anderen lebenden Wesen, die ihnen glichen. In noch einer anderen Beziehung waren sie ganz unähnlich allem anderen, mit dem zusammen sie aufwuchsen, und das war die Tatsache, dass sie Gegenstände brauchten, die nicht Teil ihrer Körper waren, um Arbeiten damit zu verrichten. Schielauge war nicht schön. Sie war kaum über einen Meter groß. Sie hatte keine Augenbrauen – das Haar auf ihrem Schädel wuchs mit ihnen zusammen, nur Nase und Backenknochen waren frei –, und sie hatte praktisch kein Kinn. Ihre Hände besaßen Finger, aber sie waren gewöhnlich geballt, sodass die Handrücken zernarbt und voller Schwielen waren und sich die Finger nicht gut spreizen ließen – nicht viel besser als die Finger ihrer Füße, mit denen sie beinahe ebenso gut greifen konnte und besser imstande war, die verwundbaren Teile eines Tieres herauszureißen, das ihre Arme umklammerten. Schielauge war schwanger, obwohl sie nichts davon wusste. Schielauge war nach ihrer fünften Regenzeit erwachsen und fruchtbar. In den dreizehn Jahren ihres Lebens war sie neun- oder zehnmal schwanger gewesen; und sie hatte es nie gewusst, bis sie davon Kenntnis nehmen musste, dass sie nicht mehr so schnell laufen konnte, dass die Wölbung ihres Bauches das Ausweiden eines Beute-Tiers erschwerte und dass ihre Zitzen wieder anzuschwellen begannen. Von den fünfzig Angehörigen ihrer Gemeinschaft waren mindestens vier ihre Kinder. Über ein Dutzend der männlichen Wesen waren die Väter der Kinder oder hätten es sein können. Mindestens einer der jungen Männer, die sie als ihre Kinder kannte, mochte durchaus der Vater eines anderen sein – eine Vorstellung, die Schielauge nicht beunruhigt hätte, selbst wenn sie imstande gewesen wäre, solch einen Zusammenhang herzustellen. Was sie mit den Männern tat, wenn das Fleisch unter ihren mageren Gesäßbacken anschwoll und sich rötete, hing für sie nicht mit dem Gebären zusammen. Es hatte auch nichts mit Lust zu tun. Es war ein Jucken, das sie kratzen ließ, sobald es auftrat. Schielauge hatte keine Möglichkeit, »Lust« zu definieren, außer vielleicht als Fehlen von Schmerz. Selbst in diesen Begriffen lernte sie in ihrem Leben wenig davon kennen.

Als die Hitschi-Landefähre über den Wolken brüllte und Feuer ausstieß, rannten Schielauge und ihre ganze Gemeinde davon, um sich zu verbergen. Niemand von ihnen sah sie zu Boden sinken.

Wenn ein Schleppfischer einen Seestern vom Meeresboden schaufelt, hebt ein Spaten ihn aus dem Eimer Schlamm und in einen Behälter, ein Biologe fixiert ihn und seziert sein Nervensystem – weiß der Seestern, was mit ihm geschieht?

Schielauge besaß mehr Bewusstsein als ein Seestern. Aber sie hatte wenig mehr an Erfahrung, um zu verstehen. Nichts, was mit ihr von dem Augenblick an geschah, als ein grelles Licht ihr in die Augen stach, ergab Sinn. Sie spürte nicht die Spitze der Narkosenadel, die sie in Schlaf versetzte. Sie wusste nicht, dass sie in die Landefähre getragen und zusammen mit zwölf ihrer Genossen in eine Kammer gekippt wurde. Sie spürte nicht die erdrückende Beschleunigung, als die Fähre startete, empfand auch nicht die Schwerelosigkeit während der langen Zeit, als sie im Raum schwebten. Sie wusste gar nichts, bis man sie wieder aufwachen ließ, und begriff nicht, was sie dann erlebte.

Nichts war mehr vertraut.

Wasser. Das Wasser, das Schielauge trank, stammte nicht mehr aus dem schlammigen Uferbereich des Flusses. Es befand sich in einem schimmernden, harten Trog. Wenn sie sich bückte, um davon zu trinken, lauerte nichts unter der Oberfläche, um sie anzuspringen.

Sonne und Himmel. Es gab keine Sonne! Es gab keine Wolken und keinen Regen. Es gab harte, blau leuchtende Wände und über dem Kopf ein blau leuchtendes Dach.

Nahrung. Es gab nichts Lebendiges, das man fangen und zerreißen konnte. Es gab flache, harte, geschmacklose Klumpen von Kaubarem. Sie füllten ihren Magen und standen immer zur Verfügung. Gleichgültig, wie viel sie und ihre Genossen aßen, es gab immer noch mehr davon.

Sehen und Hören und Riechen – alles, was sie wahrnahm, war erschreckend! Es gab einen Gestank, den sie nie zuvor gerochen hatte, scharf in ihrer Nase und Angst erregend. Es war der Geruch von Lebendigem, aber sie sah das Wesen nie, zu dem er gehörte. Es gab ein Fehlen normaler Gerüche, das beinahe ebenso schlimm war. Kein Geruch nach Rehwild. Kein Geruch nach Antilope. Kein Geruch nach Katze (was diesmal ein Segen war). Kein Geruch auch nach ihrem eigenen Kot, oder kein sehr starker, weil sie keine Binsen hatten, in denen sie sich ein Nest einrichten konnten, und die Orte, wo sie sich zusammendrängten, um zu schlafen, wurden jedes Mal, wenn sie diese verließen, sauber gespült. Ihr Kind wurde dort geboren, während der Rest des Stammes sich über ihre Grunzlaute beklagte, weil man schlafen wollte. Als sie wach wurde und es hochheben wollte, um den heißen Druck in ihren Zitzen zu mindern, war es fort. Sie sah es nie wieder.

Schielauges Neugeborenes war das erste, das unmittelbar nach der Geburt verschwand. Es war nicht das letzte. Fünfzehn Jahre lang fuhr die kleine Australopithekinenfamilie fort, zu essen und sich zu paaren, Kinder zu gebären und alt zu werden, und ihre Zahl schrumpfte, weil die Kinder sofort nach der Geburt weggenommen wurden. Eines der Weibchen kauerte sich nieder und presste und wimmerte und gebar. Dann schliefen sie alle ein und erwachten, um festzustellen, dass das Kleine verschwunden war. Von Zeit zu Zeit starb ein Erwachsenes oder war dem Ende so nah, dass es zusammengerollt und stöhnend am Boden lag, sodass sie wussten, es würde sich nie mehr erheben. Auch dann schliefen sie wieder alle, und dieses Erwachsene oder die Leiche davon war verschwunden, sobald sie wach wurden. Sie waren dreißig, dann zwanzig, dann zehn – dann nur noch eines. Schielauge war das letzte Wesen, mit neunundzwanzig Jahren eine uralte Frau. Sie wusste, dass sie alt war. Sie wusste nicht, dass sie starb, nur, dass sich in ihrem Bauch ein grauenhafter, vernichtender Schmerz breit machte, der sie ächzen und schluchzen ließ. Sie wusste es nicht, als sie tot war. Sie wusste nur, dass dieser Schmerz aufhörte, dann war sie sich eines anderen Schmerzens bewusst. Nicht eigentlich Schmerzen. Fremdartigkeit. Gefühllosigkeit. Sie sah, aber sie sah seltsam flach, seltsam flackernd, in einem sonderbar verzerrten Farbenbereich. Sie war das neue Sehen nicht gewohnt und erkannte nicht, was sie sah. Sie versuchte die Augen zu bewegen, und das ging nicht. Sie versuchte Kopf oder Arme oder Beine zu bewegen und konnte es nicht, weil sie das alles nicht hatte. Sie blieb beträchtliche Zeit in diesem Zustand.

Schielauge war kein Präparat in dem Sinn, wie das lebendige, aber freigelegte Nervensystem des spröden Seesterns eines Biologen ein Präparat ist. Sie war ein Versuch.

Einen großen Erfolg stellte sie nicht dar. Der Versuch, ihre Persönlichkeit maschinell zu speichern, scheiterte nicht aus den Gründen, die frühere Experimente beendet hatten, durchgeführt an den anderen Angehörigen ihres Stammes: schlechte Anpassung der Chemie an Rezeptoren; unvollständige Informationsübertragung; falsche Verschlüsselung. Die Hitschi-Experimentatoren setzten sich der Reihe nach mit allen diesen Problemen auseinander und lösten sie. Ihr Versuch scheiterte oder gelang nur zum Teil aus einem anderen Grund. Es gab in dem Wesen, das als »Schielauge« erkennbar war, nicht genug Persönlichkeit, um diese zu erhalten. Es war keine Biographie, nicht einmal ein Tagebuch. Es war eher so etwas wie das Einzelergebnis einer Volkszählung, begleitet von Schmerz und illustriert von Angst.