Aber das war nicht das einzige Experiment, das die Hitschi betrieben.
In einem anderen Teil der ungeheuren Maschine, die in einer Entfernung von einem halben Lichtjahr die Erdsonne umkreiste, begannen die gestohlenen Säuglinge zu gedeihen. Sie führten ein Leben, das von dem Schielauges völlig verschieden war – ein Leben, gezeichnet von automatischer Pflege, heuristischen Versuchen und programmierten Herausforderungen. Die Hitschi erkannten, dass diese Australopithekinen zwar weit davon entfernt waren, intelligent zu sein, aber den Samen weiserer Nachkommen in sich trugen. Sie beschlossen, den Prozess zu beschleunigen.
In den fünfzehn Jahren zwischen dem Herausschälen der Kolonie aus ihrer prähistorischen afrikanischen Heimat und dem Tod Schielauges gab es nicht viel an Entwicklung. Die Hitschi waren nicht entmutigt. In fünfzehn Jahren erwarteten sie nicht viel. Sie hegten viel weitreichendere Pläne.
Da ihre Pläne von ihnen auch verlangten – und zwar von allen –, dass sie anderswo sein sollten, lange bevor aus den Augen eines der Nachkommen Schielauges wahre Intelligenz strahlte, trafen sie entsprechende Vorbereitungen. Sie konstruierten und programmierten das künstliche Gebilde so, dass es ewig halten würde. Sie sorgten dafür, dass es aus einem passenden Verarbeiter von Kometenmaterial mit CHON-Nahrung versorgt wurde. Diesen hatten sie schon in Betrieb genommen, um andere ihrer Einrichtungen zu versorgen, und vom Potenzial her war er langlebig. Sie konstruierten Maschinen, um die Begabungen von Nachkommen der Neugeborenen von Zeit zu Zeit zu prüfen und so oft wie nötig den Versuch zu wiederholen, ihre Persönlichkeiten zur späteren Betrachtung maschinell zu speichern – falls irgendwann jemand von ihnen zurückkommen sollte, um zu erfahren, wie das Experiment ausgegangen war. Sie hätten das angesichts ihrer anderen Pläne als höchst unwahrscheinlich eingeschätzt.
Immerhin umfassten ihre Pläne sehr viele Alternativen, die allesamt zur gleichen Zeit bestanden; denn das Ziel ihrer Pläne war ihnen sehr wichtig. Niemand von ihnen mochte jemals zurückkommen, aber vielleicht kam irgendjemand.
Da Schielauge auf keine nutzbringende Weise sich verständigen oder handeln konnte, löschten die Hitschi-Experimentatoren sparsam die affektiven Teile ihrer Speicherung und behielten sie nur als eine Art Nachschlagewerk in einem Fach, damit spätere Beobachter, welcher Art sie auch sein mochten, es zu Rate ziehen konnten. (Es war das, was Janine zu benutzen gezwungen wurde, indem sie noch einmal durchlebte, was Schielauge vor so vielen hunderttausend Jahren erlebt hatte.) Sie hinterließen bestimmte Hinweise und Daten für den Gebrauch späterer Generationen, die sie eines Tages verstehen mochten. Sie machten hinter sich Ordnung, wie sie das immer taten. Dann entfernten sie sich und überließen es dem Rest jenes Experiments, neben all ihren anderen Experimenten, weiter abzulaufen.
Achthunderttausend Jahre lang.
»Janine«, stöhnte Huai, »Janine, bist du tot?«
Sie blickte zu seinem Gesicht hinauf, zunächst unfähig, die Augen scharfzustellen, sodass er aussah wie ein verschwommener, breiter Mond, unter dem ein doppelter Kometenschweif wackelte.
»Hilf mir hoch, Huai«, schluchzte sie. »Bring mich zurück.« Von allen Träumen war das der schlimmste gewesen. Sie fühlte sich vergewaltigt, geschändet, verändert. Ihre Welt würde nie mehr dieselbe sein. Janine kannte das Wort »Australopithekin« nicht, aber sie wusste, dass das Leben, das sie eben geteilt hatte, ein tierisches gewesen war. Schlimmer als das eines Tieres, weil irgendwo in Schielauge der Funke für die Erfindung des Denkens geschwelt hatte, und damit die unerwünschte Fähigkeit, sich zu fürchten.
Janine war erschöpft und kam sich älter vor als der Älteste. Gerade erst fünfzehn geworden, war sie kein Kind mehr. Dieses Konto war überzogen. Für sie war keine Kindheit mehr übrig. An der Kammer mit den schrägen Wänden, ihrer Zelle, blieb sie stehen.
Huai sagte angstvolclass="underline" »Janine? Was ist denn?«
»Es gibt einen Witz, den ich dir erzählen muss«, sagte sie.
»Du magst doch keine Witze«, gab er zurück.
»Es ist aber ein komischer. Hör zu. Der Älteste hat Wan mit meiner Schwester zusammengesperrt, damit sie sich fortpflanzen. Aber bei meiner Schwester geht das nicht. Sie hat eine Operation gehabt, damit sie nie mehr Kinder bekommen kann.«
»Das ist kein guter Witz«, protestierte er. »Niemand würde so etwas tun!«
»Sie hat es getan, Huai.« Sie fügte rasch hinzu: »Hab keine Angst. Du wirst nicht bestraft. Aber bring den Jungen jetzt zu mir.«
Seine sanften Augen schwammen in Tränen.
»Wie soll ich keine Angst haben? Vielleicht sollte ich den Ältesten wecken und ihm sagen …« Dann flossen die Tränen; er war außer sich vor Angst.
Sie tröstete ihn und redete ihm gut zu, bis andere Alte kamen und er ihnen den schrecklichen Witz erzählte. Janine legte sich auf ihr Polster und verschloss die Ohren vor ihrem erregten, angstvollen Geschnatter. Sie schlief nicht, lag aber mit geschlossenen Augen da, als sie Wan und Tor an die Tür kommen hörte. Als der Junge hereingeschoben wurde, stand sie auf und trat ihm entgegen.
»Wan«, sagte sie, »ich möchte, dass du deine Arme um mich legst.«
Er sah sie mürrisch an. Niemand hatte ihm erklärt, worum es hier ging, und auch Wan hatte seine Stunde in der Liege zusammen mit Schielauge hinter sich. Er sah schrecklich aus. Er hatte nie richtig Gelegenheit gehabt, sich von der Grippe zu erholen, er war nicht ausgeruht, hatte sich nicht an die großen Veränderungen in seinem Leben gewöhnt, seitdem er den Herter-Halls begegnet war. Er hatte Ringe unter den Augen und aufgesprungene Lippen. Seine Füße waren schmutzig, ebenso seine zerfetzte Kleidung.
»Hast du Angst, dass du hinfällst?«, fragte er schrill.
»Ich habe keine Angst, dass ich hinfalle, und ich möchte, dass du richtig mit mir redest. Quietsch nicht.«
Er wirkte verblüfft, aber seine Stimme sank zu der tieferen Lage herab, die sie ihm beizubringen versucht hatte.
»Warum denn?«
»Ach, Wan.« Sie schüttelte ungeduldig den Kopf und trat nach vorn. Es wäre nicht nötig gewesen, ihm zu sagen, was er tun sollte. Seine Arme schlossen sich automatisch um sie – beide in derselben Höhe, als wäre sie ein hochzuhebendes Fass, die Handflächen auf ihre Schulterblätter gepresst. Sie drückte ihre Lippen auf die seinen, hart, trocken und geschlossen, dann löste sie sich von ihm. »Weißt du noch, was das ist, Wan?«
»Natürlich! Das ist ›küssen‹.«
»Aber wir machen es falsch, Wan. Warte. Mach es noch einmal, während ich das tue.« Sie schob ihre Zungenspitze zwischen ihre fast geschlossenen Lippen und fuhr damit über seine geschlossenen. »Ich glaube, das ist besser, findest du nicht?«, sagte sie, als sie den Kopf zurückbog. »Ich habe dabei das Gefühl … ich habe das Gefühl … ein bisschen so, als würde ich mich übergeben.«
Erschrocken wollte er zurücktreten, aber sie folgte ihm.
»Nicht wirklich übergeben, aber ganz merkwürdig.«
Er blieb verkrampft bei ihr, das Gesicht abgewandt, aber seine Miene wirkte bedrückt. Sorgfältig mit tieferer Stimme sprechend, sagte er: »Tiny Jim sagt, die Leute tun das vor dem Paaren. Oder eine Person tut es manchmal, um zu erkennen, ob eine andere Person brünstig ist.«
»Brünstig, Wan! Das ist abscheulich. Sag ›verliebt‹.«
»Ich glaube, ›verliebt‹ ist anders«, meinte er störrisch, »aber auf jeden Fall gehört Küssen zum Paaren. Tiny Jim sagt …«
Sie legte ihre Hände auf seine Schultern.
»Tiny Jim ist nicht hier.«
»Nein, aber Paul will nicht, dass wir …«
»Paul ist nicht hier«, sagte sie und streichelte seinen schlanken Hals mit den Fingerspitzen, um zu sehen, wie sich das anfühlte. »Lurvy ist auch nicht da. Außerdem spielt es keine Rolle, was sie denken.« Es fühlte sich ganz seltsam an, fand sie. Es war nicht wirklich so, als müsste sie sich übergeben, sondern als fände in ihrem Bauch eine Art flüssiger Umstellung statt, eine Empfindung, mit nichts zu vergleichen, was sie jemals erlebt hatte. Nicht alles daran war unangenehm. »Lass mich deine Sachen ausziehen, Wan, dann kannst du mich ausziehen.«