Höflich begrüßte er mich. »Guten Morgen, Rob. Offensichtlich scheint es dir gut zu gehen.«
»Du hast immer mit dem Versuch begonnen, mich aufzubauen«, sagte ich. Er lächelte ein wenig.
Sigfrid Seelenklempner gibt es nicht wirklich. Er ist nichts anderes als ein psychoanalytisches Computerprogramm. Physisch existiert er nicht. Was ich sah, war lediglich ein Hologramm, und was ich hörte, waren Worte aus einem Synthesizer. Er trägt nicht mal einen Namen. Ich nenne ihn nur »Sigfrid Seelenklempner«, weil ich damals, vor Jahrzehnten, nicht mit einer namenlosen Maschine über die Dinge reden konnte, die mich in Angst versetzten. »Ich nehme an«, vermutete er nachdenklich, »du hast mich gerufen, weil dir etwas Kummer bereitet.«
»Das stimmt.«
Mit geduldiger Neugier schaute er mich an. Darin hatte er sich auch nicht verändert. Mir standen damals schon sehr viel bessere Programme zur Verfügung – vor allem eines, Albert Einstein, sodass ich mich mit den anderen kaum noch abgab –, aber Sigfrid war immer noch ziemlich gut. Er hatte die Ruhe weg. Er weiß, dass das, was mir im Kopf herumschwirrt, Zeit braucht, bis es sich in Worte fassen lässt; deshalb hetzt er mich auch nicht.
Andererseits lässt er mich aber auch nicht in den Tag hineinträumen. »Kannst du mir sagen, was dich in eben diesem Augenblick bedrückt?«
»Eine Menge. Verschiedene Dinge«, antwortete ich.
»Wähle eines«, schlug er geduldig vor. Ich zuckte mit den Achseln.
»Man hat’s nicht leicht in dieser Welt, Sigfrid. So viel hat sich zum Guten verändert. Trotzdem sind die Leute … Scheiße! Ich mache es schon wieder, nicht wahr?«
Verschmitzt lächelte er mich an. »Was machst du denn?«, ermutigte er mich.
»Sagen, dass mich eine Sache beunruhigt, aber nicht was. Dem wahren Grund versuche ich auszuweichen.«
»Das scheint mir eine kluge Erkenntnis zu sein, Robin. Willst du jetzt versuchen, mir den wahren Grund zu nennen?«
»Ich möchte«, sagte ich. »Ich möchte es so sehr, dass ich beinahe anfange zu weinen. Das habe ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gemacht.«
»Du hattest ja auch sehr lange nicht das Bedürfnis, mich zu sehen«, erklärte er. Ich nickte.
»Ja. Stimmt genau.«
Wieder wartete er eine Zeit lang, drehte nur ab und zu den Bleistift zwischen den Fingern. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck freundlichen und höflichen Interesses. Zwischen den Sitzungen konnte ich mich hauptsächlich an diesen urteilsfreien Gesichtsausdruck erinnern. Dann sagte er: »Die Dinge, Robin, die dich tief im Innern belasten, sind nicht leicht zu definieren. Du weißt das. Wir haben das schon vor Zeiten gemeinsam herausgefunden. Es ist nicht so überraschend, dass du mich all die Jahre nicht aufsuchen musstest. Offensichtlich ist dein Leben gut verlaufen.«
»Ja, wirklich sehr gut«, stimmte ich zu. »Wahrscheinlich zehnmal besser, als ich es verdient habe … Moment mal! Drücke ich damit eine verdrängte Schuld aus? Minderwertigkeitsgefühle?«
Er seufzte, lächelte aber immer noch. »Du weißt ganz genau, Robin, dass es mir lieber wäre, wenn du nicht wie ein Analytiker reden würdest.« Ich lächelte zurück. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Lass uns mal die gegenwärtige Situation ganz objektiv betrachten! Du hast alle Vorkehrungen getroffen, dass uns niemand stören kann – oder belauschen? Dass jemand etwas hört, was du nicht einmal deinem engsten und liebsten Freund anvertrauen könntest. Du hast sogar Albert Einstein, deinem Datenbeschaffungssystem, den Auftrag gegeben, sich zurückzuziehen und dieses Gespräch von allen Datenspeichern abzuschirmen. Es muss also etwas sehr Privates sein, das du mir zu berichten hast. Vielleicht ist es etwas, das du fühlst, dich aber schämst, es in Worte zu kleiden? Hilft dir das irgendwie weiter, Robin?«
Ich räusperte mich. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Sigfrid.«
»Und? Das, was du sagen willst? Kannst du es jetzt aussprechen?«
Ich wagte den Sprung ins kalte Wasser. »Gottverdammt noch mal! Natürlich kann ich! Ganz einfach! Sieht doch jeder! Ich werde gottverdammt beschissen alt!«
So ist es am besten. Wenn einem etwas nicht leicht über die Lippen geht, einfach ausspucken! Das war eine der Erfahrungen, die ich in längst vergangenen Zeiten gemacht hatte, als ich Sigfrid dreimal die Woche meine Seelenschmerzen vortrug. Es klappt immer. Sobald ich es ausgesprochen hatte, fühlte ich mich entschlackt – nicht wohl, nicht glücklich, nicht so, als ob das Problem gelöst wäre; aber dieser Klumpen von miesem Gefühl war ausgeschieden. Sigfrid nickte. Er betrachtete den Stift zwischen seinen Fingern und wartete, dass ich weitermachte. Ich wusste jetzt, dass ich es schaffen würde. Das Schlimmste lag hinter mir. Das Gefühl kannte ich. Ich erinnerte mich sehr gut daran aus früheren und stürmischen Sitzungen.
Nun bin ich nicht mehr die Person, die ich damals war. Der damalige Robin Broadhead war von Schuldgefühlen zerfressen, weil er eine Frau, die er liebte, sterbend zurückließ. Jetzt waren diese Schuldgefühle längst gemildert – weil Sigfrid mir geholfen hatte, sie zu überwinden. Der damalige Robin Broadhead hielt von sich selbst so wenig, dass er nicht glauben konnte, irgendjemand anders könnte eine gute Meinung von ihm haben. Daher hatte er auch wenig Freunde. Ich aber habe jetzt – genau weiß ich es nicht – Dutzende. Hunderte! (Von einigen werde ich Ihnen berichten.) Der damalige Robin Broadhead konnte keine Liebe akzeptieren. Seither habe ich ein Vierteljahrhundert die beste Ehe geführt, die man sich nur vorstellen kann. Ich war damals ein ganz anderer Robin Broadhead.
Aber einige Dinge hatten sich ganz und gar nicht verändert. »Sigfrid«, gestand ich. »Ich bin alt. Ich werde eines Tages sterben. Weißt du, was mir den Korken raushaut?«
Er schaute von seinem Stift auf. »Was ist das, Robin?«
»Ich bin noch nicht erwachsen genug, um so alt zu sein.«
Er spitzte die Lippen. »Würdest du mir das näher erklären, Robin?«
»Ja«, erwiderte ich. »Werde ich.« Und wirklich ging der nächste Akt ganz leicht über die Bühne. Schließlich hatte ich – da kann man sicher sein – sehr viel über diese Sache nachgedacht, ehe ich Sigfrid aufrief. »Ich glaube, dass es mit den Hitschi zu tun hat«, sagte ich. »Lass mich ausreden, ehe du mir vorhältst, dass ich verrückt bin. Wie du dich erinnerst, war ich einer aus der Hitschi-Generation. Als Kinder hörten wir dauernd von den Hitschi, die alles hatten, was menschlichen Wesen fehlte, die alles wussten, was menschliche Wesen nicht wussten …«
»Die Hitschi waren nicht ganz so überlegen, Robin.«
»Ich rede davon, wie es uns Kindern vorgekommen ist. Sie waren Furcht einflößend, weil wir uns gegenseitig damit drohten, dass sie zurückkommen und uns holen würden, und weil sie uns in allen Dingen so weit voraus waren, dass wir gegen sie keine Chance hatten. Ein bisschen wie der Nikolaus. Ein bisschen wie diese irren perversen Sittenstrolche, vor denen uns unsere Mütter immer warnten. Ein bisschen wie Gott. Verstehst du, was ich sagen will, Sigfrid?«
Seine Antwort kam vorsichtig. »Ich kann diese Gefühle erkennen. Ja. Solche Empfindungen sind in der Analyse bei vielen Leuten deiner Generation und auch noch später festgestellt worden.«
»Genau! Und ich erinnere mich an etwas, das du einmal von Freud erzählt hast. Er behauptete, dass kein Mann wirklich erwachsen werden könne, solange sein Vater noch lebt.«
Hier ist wieder Albert Einstein. Ich halte es für besser, richtig zu stellen, was Robin über Gelle-Klara Moynlin sagt. Sie war zusammen mit ihm Prospektor auf Gateway, und er liebte sie. Gemeinsam mit anderen Prospektoren wurden die beiden in einem Schwarzen Loch eingeschlossen. Es war möglich, einige auf Kosten der anderen zu befreien. Robin kam heraus. Klara und die anderen nicht. Dies mag ein glücklicher Zufall gewesen sein. Vielleicht hatte sich auch Klara selbstlos geopfert, um ihn zu retten. Vielleicht war aber auch Robin in Panik geraten und hatte sich zum Nachteil der anderen in Sicherheit gebracht. Selbst jetzt gibt es keine Möglichkeit, das zu entscheiden. Aber Robin war »schuld-süchtig«. Jahrelang belastete ihn das Bild Klaras in dem Schwarzen Loch, wo die Zeit beinahe stehen blieb, wo sie ständig in demselben Augenblick des Schocks und Schreckens leben musste – und ständig ihm die Schuld dafür gab (dachte er). Nur Sigfrid half ihm da heraus.