Man mag sich vielleicht wundern, woher ich das weiß, da doch das Gespräch mit Sigfrid geheim war. Das ist leicht. Ich weiß es jetzt auf die gleiche Art, auf die Robin so viel über so viele Leute weiß und was diese tun, obwohl er nicht dabei war.
»Nun, im Grunde …«
Ich fuhr ihm über den Mund. »Und ich habe dir damals erklärt, dass das Bockmist sei. Schließlich war mein Vater nett genug zu sterben, als ich noch ein kleines Kind war.«
»O Robin!« Er seufzte.
»Nein! Jetzt höre mir zu! Was ist denn mit der größten Vaterfigur, die es gibt? Wie kann jemand erwachsen werden, solange Unser Vater, Der Du Bist Im Kern immer noch da draußen herumhängt, wo wir ihn nicht mal erreichen können, gar nicht zu reden, wie wir den alten Bastard beseitigen können?«
Traurig schüttelte er den Kopf. »›Vaterfiguren‹. Freudzitate.«
»Nein! Ich mein’ es genau so! Kapierst du das denn nicht?«
Er war sehr ernst. »Ja, Robin. Ich verstehe, was du von den Hitschi gesagt hast. Das stimmt. Das ist ein Problem für die menschliche Rasse. Da stimme ich dir zu. Unglücklicherweise hat Dr. Freud niemals eine solche Situation bedacht. Aber wir sprechen hier nicht über die menschliche Rasse. Wir sprechen über dich! Du hast mich doch nicht gerufen, um abstrakt mit mir zu diskutieren. Du hast mich gerufen, weil du unglücklich bist. Du hast bereits zugegeben, dass es der unaufhaltsame Alterungsprozess ist, der dir zu schaffen macht. Also lass uns doch bei diesem Thema bleiben. Bitte, ergeh dich nicht in irgendwelchen Theorien, sondern sag mir, was du empfindest!«
»Was ich empfinde?«, brüllte ich. »Ich komme mir verdammt alt vor. Du kannst das nicht verstehen, weil du eine Maschine bist. Du weißt nicht, wie das ist, wenn man nicht mehr richtig sehen kann, wenn auf dem Handrücken diese rostigen Altersflecken auftauchen und die Haut ums Kinn schlabbert. Wenn man sich hinsetzen muss, nur um Socken anzuziehen, weil man nämlich auf einem Fuß umfallen würde. Wenn man bei jedem vergessenen Geburtsdatum glaubt, man hätte Alzheimer. Und man nicht mal pinkeln kann, wenn man will! Wenn …« Hier brach ich ab. Er war mir nicht ins Wort gefallen, sondern hörte nur geduldig zu und schaute mich an, als würde er noch ewig zuhören. Wozu das ganze Gerede? Er ließ mir noch einen Augenblick Zeit, um sicherzugehen, dass ich wirklich fertig war. Dann begann er geduldig:
»Deiner Krankheitsgeschichte nach wurde deine Prostata vor achtzehn Monaten ausgewechselt, Robin. Die Störung im Mittelohr kann leicht …«
»Das reicht!«, schrie ich. »Was weißt du von meiner Krankheitsgeschichte, Sigfrid? Ich habe ausdrücklich angeordnet, dass diese Untersuchungen unter Verschluss gehalten werden!«
»Ist doch auch geschehen, Robin. Glaub mir, kein Wort wird einem anderen deiner Programme zur Verfügung stehen oder irgendjemandem außer dir selbst. Allerdings bin ich sehr wohl in der Lage, alle deine Datenspeicher, darunter auch deine Krankengeschichte, abzurufen. Darf ich jetzt fortfahren? Steigbügel und Amboss in deinem Ohr können leicht ersetzt werden. Das löst das Gleichgewichtsproblem. Hornhautverpflanzungen beseitigen den drohenden Star. Die anderen Punkte sind rein kosmetischer Natur. Es ist doch überhaupt kein Problem, gutes, junges Gewebe für dich zu beschaffen. Dann bleibt nur die Alzheimer’sche Krankheit. Ehrlich, Robin, da kann ich bei dir keinerlei Anzeichen entdecken.«
Ich zuckte mit den Achseln. Er wartete einen Augenblick, ehe er weitersprach. »Du siehst, alle Probleme, die du aufgezählt hast – dazu noch die lange Liste von anderen, die du nicht erwähnt hast, die aber in deiner Krankengeschichte stehen –, können jederzeit behoben werden oder sind es bereits. Vielleicht hast du dir die Frage falsch gestellt, Robin. Vielleicht liegt die Schwierigkeit nicht darin, dass du alt wirst, sondern darin, dass du nicht bereit bist, die notwendigen Schritte zu unternehmen, diesen Prozess umzupolen.«
»Warum, zum Teufel, sollte ich?«
Er nickte. »Ja, warum wohl, Robin? Kannst du diese Frage beantworten?«
»Nein! Kann ich nicht! Wenn ich das könnte, würde ich dich doch nicht fragen!«
Er spitzte die Lippen und wartete.
»Vielleicht will ich eben so sein!«
Er wartete.
»Also wirklich, Sigfrid!«, schmeichelte ich. »Schon gut! Ich gebe zu, du hast Recht. Ich habe medizinischen Vollschutz und kann mir so viele fremde Organe besorgen, wie ich will. Der Grund für meine Weigerung, dies zu tun, liegt irgendwo in meinem Kopf. Ich weiß, wie du das nennst: Endogene Depression. Aber das hilft mir auch nicht weiter!«
»Ach, Robin!« Er seufzte. »Wieder dieses psychoanalytische Kauderwelsch. Und dann noch falsch! ›Endogen‹ bedeutet lediglich ›von innen kommend‹. Das heißt doch nicht, dass es keine Ursache gibt.«
»Und was ist die Ursache?«
Nachdenklich sprach er weiter. »Wir wollen ein Spiel spielen. Neben deiner linken Hand ist ein Knopf …«
Ich sah nach. Tatsächlich! Auf der Lehne des Ledersessels befand sich ein Knopf. »Der ist nur da, damit sich der Lederbezug nicht verzieht«, sagte ich.
»Sicherlich! Aber in diesem Spiel wird der Knopf, sobald du ihn drückst, bewirken, dass sofort jede Verpflanzung, die du brauchst oder haben willst, ausgeführt ist. Augenblicklich! Lege den Finger auf den Knopf, Robin! Jetzt! Willst du ihn drücken?«
»Nein!«
»Gut! Kannst du mir erklären, warum nicht?«
»Weil ich es nicht verdiene, Körperteile von jemand anderem zu nehmen!« Das hatte ich nicht sagen wollen. Das hatte ich nicht einmal gewusst. Nachdem ich es ausgesprochen hatte, konnte ich nur noch dasitzen und dem Echo meiner Worte lauschen. Auch Sigfrid schwieg lange.
Schließlich nahm er seinen Stift, steckte ihn in die Tasche, rollte den Block zusammen, verstaute ihn in einer anderen Tasche und beugte sich vor. »Robin«, bedeutete er mir. »Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann. Da ist ein Schuldgefühl, bei dem ich keine Möglichkeit sehe, es zu beseitigen.«
»Aber du hast mir doch früher so geholfen!«, schluchzte ich.
»Früher«, warf er ernst ein, »hast du dir selbst Schmerz zugefügt, weil du dich wegen einer Sache schuldig fühltest, für die du wahrscheinlich gar nichts konntest, die auf alle Fälle weit in der Vergangenheit lag. Jetzt liegt der Fall ganz anders. Du kannst vielleicht noch fünfzig Jahre leben, wenn du deine kranken Organe durch gesunde ersetzen lässt. Aber du hast Recht, dass diese Organe von jemand anderem kommen und gewissermaßen ein anderes Leben verkürzen, damit du länger leben kannst. Diese Wahrheit zu erkennen, Robin, ist kein neurotisches Schuldgefühl. Es ist nur das Eingeständnis einer moralischen Wahrheit.«
Das war alles, was er sagte. Lediglich noch »Leb wohl!« mit einem Lächeln, traurig und zugleich liebevoll.
Ich hasse es, wenn meine Computerprogramme mit mir über Moral sprechen. Vor allem, wenn sie Recht haben.
Man darf nun aber keineswegs vergessen, dass die Depression, die ich gerade durchmachte, nicht das Einzige war, was passierte. Lieber Himmel, nein! Viele Dinge passierten vielen Leuten auf der Welt – auf allen Welten und in den Zwischenräumen –, die nicht nur viel interessanter, sondern auch viel wichtiger waren, auch für mich. Ich habe damals nur nichts davon gewusst, obwohl sie Leute betrafen (oder auch Nicht-Leute), die ich kannte (oder später kennen lernte oder gekannt, aber vergessen hatte). Lassen Sie mich Ihnen ein paar Beispiele aufzählen. Mein Noch-nicht-Freund Kapitän, der einer dieser Irren-Sittenstrolch-Nikolaus-Hitschi war, die in meinen Kinderträumen herumgespukt hatten, sollte noch viel mehr Angst bekommen, als ich je bei dem Gedanken an die Hitschi empfunden hatte. Mein früherer (und bald wieder) Freund Audee Walthers Jr. stand kurz davor, zu seinem Schaden, meinen früheren Freund (oder Nicht-Freund) Wan zu treffen. Und mein allerbester Freund (unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er nicht »wirklich« war), das Computerprogramm Albert Einstein, war dabei, mich zu überraschen … Wie verzwickt diese Aufzählung ist! Ich kann es nicht ändern. Ich habe in einer komplizierten Zeit gelebt, auf sehr komplizierte Art und Weise. Jetzt, nachdem ich erweitert worden bin, passen alle Teile sehr gut zusammen, wie Sie sehen werden. Aber damals wusste ich nicht einmal, was die einzelnen Teile zu bedeuten hatten. Ich war nur ein alternder Mann, zu Boden gedrückt von dem Bewusstsein der Sterblichkeit und der Sünde. Als meine Frau nach Hause kam und mich auf dem Sofa liegend fand, mit stierem Blick auf den Tappan-See, rief sie sofort: »Na so was, Robin? Was, zum Teufel, ist denn los mit dir?«