Walthers bewegte sich und schaute sie an. »Geh schon vor!«, sagte er. »Ich habe keinen Hunger mehr.«
Wans Schiff! Wie merkwürdig, dachte Walthers, dass ihm der Zusammenhang nicht schon früher aufgefallen war. Natürlich, das war es!
Wan war auf diesem Schiff geboren worden. Lange, ehe man es in S. Ya. Broadhead umbenannt hatte, lange, ehe die menschliche Rasse wusste, dass es existierte … es sei denn, man rechnete die paar Dutzend entfernte Verwandte des Australopithecus afarensis zu den Menschen. Wan war von einer schwangeren Gateway-Prospektorin geboren worden. Ihr Mann war auf einer Mission verloren gegangen, sie auf einer anderen gestrandet. Sie blieb noch einige Jahre am Leben, dann ließ sie ihn als Waisen zurück. Walthers konnte sich Wans Kinderjahre nur mit Mühe vorstellen – ein winziges Kind in diesem riesigen, beinahe leeren Schiff, keine Gesellschaft außer Wilden und den computergespeicherten Analoga toter Raumprospektoren, von denen eine zweifellos seine Mutter gewesen war. Man musste Mitleid haben …
Walthers hatte aber kein Mitleid. Nicht mit Wan, der sich seine Frau ausgeliehen hatte; und auch nicht mit dem Mann, der diese Maschine entdeckt hatte, den TPSE – die Abkürzung für »Telempathisch-Psychokinetischer Sender-Empfänger«, wie er in der schwerfälligen Bürokratensprache hieß. Wan hatte ihn nur eine Traumcouch genannt. Der Rest der Menschheit hatte ihn als »Fieber« bezeichnet, diese grauenvolle, undefinierbare Besessenheit, die jeden lebenden Menschen befallen hatte, als der dämliche junge Wan diese Couch entdeckte und herausfand, dass er dadurch eine Art Kontakt mit lebenden Wesen herstellen konnte. Er wusste aber nicht, dass dadurch die Menschheit auch eine Art von Kontakt mit ihm herstellte. Und so drangen seine pubertären Träume, Ängste und sexuellen Phantasien in zehn Milliarden menschliche Gehirne … Walthers erinnerte sich daran, und es gab ihm einen weiteren Grund, Wan zu hassen.
Er konnte sich an diesen wiederholt auftretenden, weltweiten Wahnsinn nicht mehr in allen Einzelheiten erinnern, konnte sich auch nicht mehr vorstellen, wie verheerend die Wirkung gewesen war. Er versuchte gar nicht erst, sich Wans einsame, leere Kindheit hier vorzustellen, sondern dachte lieber an den jetzigen Wan, der auf seinen geheimnisvollen Fahrten die Sterne umkreiste, seine einzige Gefährtin dabei Walthers’ flüchtige Ehefrau – das, und zwar mit allem Drum und Dran, konnte er sich sehr wohl vorstellen.
Und das tat er auch. Er verbrachte fast die ganze Stunde, die ihm bis zum Dienstantritt blieb, mit diesen Vorstellungen. Bis er erkannte, dass er sich in Selbstmitleid wälzte und sich freiwillig so erniedrigte, wie es für einen erwachsenen Menschen unwürdig war.
Er war pünktlich. Yee-xing war vor ihm in der Pilotenkanzel. Sie sagte nichts, blickte ihn nur überrascht an. Er lächelte ihr zu und ging an die Arbeit.
Obwohl der Pilot des Raumschiffes im Grunde nicht viel mehr zu tun hatte, als das Steuer zu halten und das Schiff sich selbst fliegen zu lassen, wurde es Walthers nicht langweilig. Seine Stimmung war umgeschlagen. Die ungeheure Größe des Schiffes, das er unter seinen Fingerspitzen hatte, bedeutete eine Herausforderung. Er beobachtete Janie Yee-xing, wie sie mit Knien, Zehenspitzen und Ellenbogen die Instrumente bediente, die den Kurs, die Position, den Zustand des Schiffes und all die anderen Daten anzeigten, die ein Pilot nicht wirklich brauchte, um den Pott zu fliegen, die er aber kennen sollte, wenn er sich Pilot nennen wollte. Walthers rief den Kurs ab und überprüfte die Position der S. Ya., einen winzigen, leuchtenden Goldpunkt an einer dünnen, blauen Linie, neunzehnhundert Lichtjahre lang. Er verifizierte, dass die Position auch stimmte, indem er die Winkel zu den rot leuchtenden Markierungssternen auf der Route berechnete. Stirnrunzelnd warf er einen Blick auf die Hand voll »Bleib-weg!«-Markierungen, wo Schwarze Löcher und Gaswolken eine Bedrohung darstellten – keine davon war in der Nähe ihres Kurses, wie es schien. Er rief sogar die große Hitschi-Himmelskarte auf, welche die gesamte Galaxis zeigte, wobei andere Mitglieder der Örtlichen Gruppe am Rande hingen. Mehrere hundert sehr gescheite Menschen und tausende von Arbeitsstunden maschineller Intelligenz hatten den Kode der Hitschi-Karten zu entschlüsseln versucht. Immer noch gab es Teile, über die man nicht Bescheid wusste. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Walthers die einzelnen Stellen im gesamten Gebiet, wo die bunt aufleuchtenden Punkte doppelt und dreifach auftraten, von denen jeder »Gefahr« signalisierte. Was konnte so gefährlich sein, dass die Hitschi-Karten vor Panik fast aufschrien?
Es gab noch eine Menge zu lernen! Und wo konnte man das besser tun als hier auf dem Schiff, dachte Walthers. Natürlich war seine Arbeit zeitlich genau begrenzt. Aber wenn er seinen Dienst gut versah … wenn er Bereitwilligkeit und Talent zeigte … wenn er den Kapitän für sich einnahm … wenn der Kapitän nach Erreichen der Erde einen neuen Siebten Offizier anheuern musste, hatte er doch keinen besseren Kandidaten als Walthers. Das waren so seine Gedanken.
Als die Schicht vorbei war, kam Yee-xing herüber. Zwischen den beiden Pilotensitzen lagen etwa zehn Meter. »Als Pilot machst du dich wirklich gut, Walthers«, lobte sie. »Ich hatte anfangs so meine Bedenken.«
Die Hitschi-Systeme für Navigation und Kartierung waren nicht leicht zu entschlüsseln. Bei der Navigation geht das System von zwei Punkten aus – Start und Ziel der Fahrt. Dann sucht es alle dazwischen liegenden Hindernisse heraus. Das können Staub- oder Gaswolken sein, störende Strahlung, Gravitationsfelder und vieles mehr. Danach werden die Punkte ausgewählt – dazwischen oder außen herum –, an denen eine sichere Durchfahrt möglich ist. Man konstruiert eine Kurvenlinie, um die Punkte miteinander zu verbinden. Auf diesem Kurs wird das Schiff dann hinausgeschickt.
Viele Objekte und Punkte auf den Karten waren besonders gekennzeichnet, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken – flackernde Aurae, Kreuze und so weiter. Die Schwierigkeit lag aber darin, dass wir nicht wussten, welche Zeichen Warnsignale waren oder wovor sie warnten.
Er nahm ihre Hand, und sie gingen zur Tür. »Ich hatte vorhin wohl schlechte Laune«, entschuldigte er sich. Yee-xing zuckte mit den Achseln.
»Die erste Freundin nach einer Scheidung bekommt immer den ganzen Mist ab«, bemerkte sie. »Was hast du gemacht? Hast du eines deiner Seelenklempnerprogramme aktiviert?«
»War nicht nötig. Ich habe nur …« Walthers zögerte und versuchte sich zu erinnern, was er getan hatte. »Ich habe nur ein kurzes Selbstgespräch geführt. Wenn einem die Frau einfach abhaut«, erklärte er, »kommt man sich vor allem so beschämt vor. Ich meine, außer der Eifersucht und der Wut und allem anderen. Aber nachdem ich mich eine Zeit lang hatte hängen lassen, wurde mir plötzlich klar, dass ich nichts getan hatte, wofür ich mich schämen müsste. Dieses Gefühl war unberechtigt. Verstehst du mich?«
»Und das hat geholfen?«, fragte sie.
»Ja. Nach einer Weile.« Und nachdem er das unfehlbare Gegenmittel auf durch Frauen verursachte Schmerzen – eine andere Frau – eingenommen hatte. Aber das wollte er dem Gegenmittel nicht erzählen.
»Das muss ich mir merken, wenn mich wieder mal einer sitzen lässt. Aber jetzt ist es, glaube ich, Zeit ins Bett zu gehen …«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist noch früh. Ich bin noch so aufgedreht. Was ist mit dem alten Hitschi-Zeug? Du hast doch behauptet, du wüsstest, wie man an den Wachposten vorbeikommt.«
Sie blieb abrupt stehen und schaute ihn an. »Du hältst einen ganz schön auf Trab, Audee. Mal so, mal so«, beklagte sie sich. »Aber was soll’s!«
Die S. Ya. hatte einen doppelten Rumpf. Der Zwischenraum war eng und dunkel. Man konnte ihn aber betreten. Yee-xing führte Walthers durch den engen Gang an der Außenhaut des riesigen Raumschiffes, dann durch das Labyrinth der leeren Siedlerbetten, vorbei an der primitiven, großen Küche, die sie ernährte, an einen Ort, der nach uraltem Abfall und Fäulnis roch – in eine geräumige, schummrige Kammer. »Hier ist es«, sagte sie. Sie flüsterte, obwohl sie ihm versichert hatte, sie wären von den Wachen so weit entfernt, dass diese sie nicht hören konnten. »Bring deinen Kopf nahe an das Ding, das wie ein silbernes Körbchen aussieht – siehst du, wo ich hinzeige? Aber ja nicht berühren! Das ist wichtig!«