»Warum schwitze ich eigentlich?«, fragte er laut.
Yee-xing hakte ihn zur moralischen Unterstützung unter. »Es wird schon alles gut werden«, antwortete sie ausweichend. »So oder so.« Dankbar schaute Audee Walthers zu ihr herunter. Er war nicht besonders groß, aber Janie Yee-xing war winzig. Alles an ihr war winzig, bis auf die strahlenden schwarzen Augen, und das kam von einem chirurgischen Eingriff aus der Zeit, als sie in einen schwedischen Bankier verliebt gewesen war. Sie hatte sich damals eingebildet, dass nur die Asiatenfalte ihn davon abhielt, sie ebenfalls zu lieben. »Na? Sollen wir reingehen?«
Walthers hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Er runzelte die Stirn. Yee-xing stieß ihn mit ihrem kleinen Kopf gegen die Schulter und schaute zu einem Ladenschild empor. In blassen Buchstaben stand dort, gleichsam in leerem ebenholzschwarzem Raum:
Jetzt – Später
Walters betrachtete das Schild und meinte dann zu Janie: »Ist wohl ein Beerdigungsinstitut.« Dann lachte er, weil er glaubte, ihren Scherz verstanden zu haben. »Aber so schlecht steht es noch nicht mit uns, Janie.«
»Ist es nicht«, sagte sie. »Jedenfalls kein richtiges Beerdigungsinstitut. Erinnerst du dich nicht an den Namen?« Da fiel es ihm wieder ein: Es war eines der vielen Unternehmen Broadheads auf der Liste.
Je mehr man über Broadhead erfuhr, desto leichter wurde es herauszufinden, welche Umstände ihn zu einem Handel bewegen konnten. Das leuchtete ein. »Warum nicht?«, antwortete Walthers zustimmend und führte sie durch den Luftvorhang in die kühle und dunkle Tiefe des Geschäfts. Wenn es kein Beerdigungsinstitut war, hatte es sich zumindest desselben Innenarchitekten bedient. Aus dem Hintergrund ertönte leise undefinierbare Musik. Hinzu kam der Duft von wilden Blumen, obwohl als einzige Dekoration ein Strauß weißer Rosen in einer Kristallvase zu sehen war. Ein großer, gut aussehender älterer Herr erhob sich. Walthers war sich nicht sicher, ob er aus einem Sessel aufgestanden war oder sich als Hologramm materialisiert hatte. Die Gestalt lächelte ihnen freundlich zu und versuchte, ihre Nationalität zu erraten, irrte sich aber. »Guten Tag«, begrüßte er Walthers; und dann Yee-xing mit »Gor ho oy-ney«.
»Wir sprechen beide Englisch«, erklärte Walthers. »Sie auch?«
Die Brauen des Weltmannes hoben sich. »Aber selbstverständlich. Willkommen bei ›Jetzt und Später‹. Nähert sich eine Ihnen nahe stehende Person der Schwelle des Todes?«
»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete Walthers.
»Verstehe. Selbstverständlich können wir auch dann noch sehr viel tun, wenn die Person bereits metabolisch tot ist. Obwohl es besser ist, mit der Übertragung möglichst früh zu beginnen – oder machen Sie vielleicht für sich selbst weitsichtig Pläne?«
»Weder noch!«, beschied ihm Yee-xing. »Wir wollen uns nur über Ihr Angebot informieren.«
»Selbstverständlich.« Der Mann lächelte und bat sie zu einer bequemen Couch. Ohne dass er etwas dazu beizutragen schien, wurde das Licht etwas heller, und die Musik ging um einige Dezibel zurück. »Meine Karte«, sagte er und reichte sie Walthers. Das Stück Pappe beantwortete diesem eine Frage, die in ihm gebohrt hatte: Die Karte konnte man anfassen, ebenso wie die Finger, die sie ihm übergaben. »Darf ich Ihnen zuerst das Grundsätzliche erläutern? Wir sparen damit Zeit. Zunächst einmaclass="underline" Jetzt und Später ist keine religiöse Organisation und erhebt keinen Anspruch, die Erlösung zu bringen. Was wir anbieten, ist eine Art Überleben. Ob Sie – das ›Sie‹, das sich in diesem Augenblick in diesem Raum befindet –, ob Sie sich dessen ›bewusst‹ sind oder nicht, ist eine Frage, über die sich die Metaphysiker immer noch streiten. Aber die Lagerung Ihrer Persönlichkeit – sollten Sie sich dazu entschließen – wird garantiert den Turing-Test bestehen. Vorausgesetzt, dass wir mit der Übertragung anfangen, solange das Gehirn noch in guter Verfassung ist. Die Umgebung kann sich der Kunde ganz nach Belieben aus unserer Liste aussuchen. Wir haben über zweihundert Vorschläge hierzu für die Überlebenden anzubieten. Da wäre …«
Yee-xing schnippte mit den Fingern. »Die Toten Menschen!«, warf sie ein. Jetzt hatte sie verstanden.
Der Verkäufer nickte. Allerdings wirkten seine Züge jetzt etwas angespannter. »So wurden die Originalstücke genannt. Ich sehe, dass Sie sich mit dem Artefakt, dem so genannten Hitschi-Himmel, auskennen, das jetzt als Transporter für Kolonisten benutzt wird …«
»Ich bin Dritter Offizier auf diesem Transporter«, unterbrach ihn Yee-xing. Bis auf das Präsens des Verbs sprach sie die Wahrheit. »Und mein Freund ist der Siebte.«
»Ich beneide Sie«, sagte der Verkäufer. Sein Gesichtsausdruck bestätigte seine Worte. Der Neid hielt ihn aber nicht davon ab, sein Verkaufsgespräch fortzusetzen. Walthers hörte aufmerksam zu. Janie Yee-xing hielt dabei seine Hand. Er schätzte diese Geste. Die Hand hielt ihn davon ab, an die Toten Menschen und ihren Schützling Wan zu denken – und daran, was Wan wohl in diesem Augenblick machte.
Die eigentlichen Toten Menschen – erklärte der Verkäufer – waren leider ziemlich ramponiert. Die Übertragung ihrer Erinnerungen und Persönlichkeiten aus dem nassen, grauen Behälter in ihren Schädeln in die kristallenen Datenspeicher, die sie nach ihrem Tode konservierten, war von Pfuschern durchgeführt worden, die keine Erfahrung besaßen und mit Geräten gearbeitet hatten, die für eine ganz andere Spezies entworfen worden waren. Daher war also die Lagerung nicht zufrieden stellend. Man könne sich das am besten so vorstellen, fuhr der Verkäufer fort, dass die Toten Menschen bei ihrer unsachgemäßen Übertragung so überbeansprucht worden waren, dass sie wahnsinnig wurden. Aber das passierte heute nicht mehr. Jetzt waren die Lagerbedingungen so verbessert worden, dass jeder Verstorbene mit seinen Hinterbliebenen Gespräche führen konnte, als wäre er eine lebende Person. Das war aber noch nicht alles! Der »Patient« führte in den Datenspeichern ein durchaus aktives Leben. Er konnte Erfahrungen im Himmel der Moslems sammeln oder in dem der Christen oder Scientologen. Je nachdem gab es bildschöne Knaben und Mädchen, wie Perlen im Gras verstreut, oder Engelschöre oder die Gesellschaft von L. Ron Hubbard persönlich. War er nicht so religiös eingestellt, konnte er sich sportlich betätigen oder Abenteuer erleben (Klettern, Tauchen, Skifahren, Drachenfliegen und Freifall-Tai-Chi wurden sehr gern gewählt). Er konnte aber auch jede Art von Musik hören, in Gesellschaft von Leuten, die er sich ausgesucht hatte … und, natürlich (Der Verkäufer war sich über die genaue Beziehung zwischen Walthers und Yee-xing nicht sicher; deshalb schmückte er diese Information nicht weiter aus.) auch Sex. Alle Arten von Sex. Und immer wieder.
Als die Programme und Datenbasen der so genannten Toten Menschen der Forschung zur Verfügung standen, war meine Schöpferin, S. Ya. Broadhead, natürlich sehr daran interessiert. Sie stellte sich die Aufgabe, dieses Werk der Hitschi zu wiederholen. Am schwierigsten war dabei natürlich die Übertragung der Datenbasis eines chemisch arbeitenden menschlichen Gehirns und Nervensystems auf die Hitschi-Datenfächer. Das gelang ihr recht gut. Sie konnte nicht nur ihre Jetzt-und-Später-Ladenkette ausbauen, sondern sogar – nun ja – mich schaffen. Die Jetzt-und-Später-Lagerung beruhte noch auf ihren ersten Forschungen. Später wurde sie besser – sogar besser als die der Hitschi –, da sie in lernte, nicht nur deren Techniken anzuwenden, sondern sie mit unabhängiger, menschlicher Technologie zu verbinden. Die Toten Menschen wären nie durch einen Turing-Test gekommen. Essie Broadheads Erzeugnisse konnten es nach einiger Zeit, wie sich zeigte.