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Früher reichte es nicht einmal aus, im Orbit zu sein. Man hatte noch die lange, langsame Hohmann-Reise zum Gateway-Asteroiden vor sich. Dabei kam man vor Angst fast um, weil jeder wusste, dass mehr Gateway-Prospektoren starben als reich wurden. Außerdem war man raumkrank und dazu verdammt, Wochen oder Monate zusammengepfercht in dieser interstellaren Kiste zu verbringen, ehe man zum Asteroiden gelangte. Vor allem hatte man Angst, weil man ja wusste, dass man alles aufs Spiel setzte, was man besaß oder sich geborgt hatte, um für die Reise zu bezahlen. Jetzt hatten wir einen Hitschi-Dreier gechartert, der auf uns in der niedrigen Erdumlaufbahn wartete. Wir konnten in Hemdsärmeln umsteigen und auf dem Weg zu den Sternen sein, ehe wir noch unsere letzte Mahlzeit auf der Erde verdaut hatten – das heißt, wir konnten, weil wir über genügend Einfluss und Geld verfügten, um das zu bezahlen.

Früher war eine Fahrt in das interstellare Nichts so ähnlich wie Russisches Roulette. Der Unterschied bestand nur darin, dass man, wenn einem das Glück gewogen war und man am Ende der Reise etwas fand, auf ewig reicher als reich sein konnte – wie es mir passierte. Aber meistens fand man nur den Tod.

»Ist jetzt viel besser«, stellte Essie richtig fest, als wir aus dem Flugzeug stiegen und in die heiße Sonne Südamerikas blinzelten. »Und wo ist der verdammte Gästewagen von dem elenden Flohkiste-Hotel?« Ich verlor kein Wort darüber, dass sie meine Gedanken gelesen hatte. Nach so vielen Jahren der Ehe war ich daran gewöhnt. Es war auch keine Telepathie. Jeder Mensch hätte dasselbe gedacht, wenn er das tat, was wir gerade machten. »Ich wünschte, Audee Walthers würde mit uns kommen«, sagte ich und blickte hinaus zur Startschlaufe. Wir waren noch mehrere Kilometer entfernt, am anderen Ufer des Tehigualpa-Sees. Ich konnte die Spiegelung der Schlaufe im Wasser sehen. In der Mitte des Sees tiefblau, in Ufernähe grüngelb. Dort hatte man essbare Algen ausgesät. Es war ein hübscher Anblick.

»Wenn du ihn mit dabeihaben wolltest, war es blöd, ihm zwei Millionen zu geben für die Jagd nach seiner Frau«, kritisierte Essie praktisch denkend. Dann schaute sie mich genauer an. »Wie fühlst du dich?«

»Absolut super«, antwortete ich. Das war auch von der Wahrheit nicht allzu weit entfernt. »Hör auf, dir um mich Sorgen zu machen! Wenn man medizinischen Vollschutz hat, wagen sie es nicht, einen sterben zu lassen, ehe man hundert wird – das wäre schlecht fürs Geschäft.«

»Das sagt gar nicht viel«, meinte sie mürrisch, »wenn der Kunde ein leichtsinniger Desperado auf der Jagd nach angeblichen Hitschi ist! Egal«, fügte sie fröhlicher hinzu. »Da ist der Wagen von der Flohkiste – steig ein!«

Drinnen beugte ich mich zu ihr hinüber und küsste sie auf den Nacken – das war leicht, weil sie ihre langen Haare geflochten und vorn wie ein Halsband verknotet trug. (Sie hatte sich schon für den Start bereitgemacht, müssen Sie wissen.) Sie lehnte sich gegen meinen Mund. »Chuligan«, flüsterte sie. »Aber nicht schlimmer Chuligan!«

Das Hotel war nicht unbedingt eine Flohkiste. Man hatte uns eine gut ausgestattete Suite im obersten Stock gegeben, von der aus man auf den See und die Schlaufe blicken konnte. Außerdem würden wir nur ein paar Stunden hier bleiben. Ich ließ Essie ihre Programme in das PV-Gerät eingeben und schlenderte zum Fenster. Dabei redete ich mir ein, nicht wirklich ein Halbstarker zu sein. Aber das stimmte nicht. Schließlich gehörte es sich für einen verantwortungsbewussten erwachsenen Bürger mit Geld und Einfluss nicht, nur zum Spaß und Nervenkitzel ins All zu flitzen.

Mir kam der Gedanke, dass Essie meine Motive vielleicht anders sehen könnte. In ihren Augen war ich vielleicht hinter etwas ganz anderem her.

Dann kam mir zum Bewusstsein, dass ich die Sache vielleicht auch falsch sah. Suchte ich wirklich nach den Hitschi? Sicher, zumindest könnte es das sein. Jeder wollte irrsinnig gern mehr über die Hitschi wissen. Aber nicht jeder hatte da draußen im interstellaren Raum etwas zurückgelassen. War es möglich, dass mich in einem tief verborgenen Teil meines Gehirns die Hoffnung hinaus- und immer weitertrieb, irgendwie und irgendwo das Verlorene wieder zu finden? Ich wusste, worum es sich handelte. Ich wusste, wo ich es zurückgelassen hatte. Was ich nicht wusste, war, was ich tun würde, wenn ich es – oder besser gesagt, sie – wieder finden würde.

In dem Augenblick spürte ich eine Art Flattern, keinen richtigen Schmerz, in meinem Inneren. Das hatte nichts mit den zwei Komma drei Metern neuer Eingeweide zu tun. Es hatte mit der Hoffnung – oder der Angst – zu tun, dass Gelle-Klara Moynlin irgendwie in meinem Leben wieder auftauchen könnte. Da waren doch noch viel mehr Gefühle übrig, als ich gedacht hatte. Sie ließen meine Augen nass werden, sodass sich die spinnwebartige Schlaufe vor meinen Augen zu kräuseln schien.

Aber in meinen Augen standen keine Tränen.

Es war auch keine optische Täuschung. »Mein Gott!«, rief ich. »Essie!« Sie rannte an meine Seite. Wir sahen, wie eine kleine Flamme aus einer Kapsel auf der Startrampe hochschoss und wie die ganze hauchzarte Konstruktion zitterte. Dann gab es ein Geräusch – einen einzigen schwachen Knall wie einen Kanonenschuss, dann das tiefere, lang anhaltende Donnern, als die riesige Schlaufe zerriss. »Mein Gott!«, wiederholte Essie leise und umklammerte meinen Arm. »Terroristen?«

Sie beantwortete ihre Frage selbst. »Natürlich Terroristen«, stellte sie bitter fest. »Wer sonst könnte so gemein sein?«

Ich hatte das Fenster geöffnet, um einen besseren Blick auf den See und die Schlaufe zu haben. Wie gut! Dadurch wurde es nicht eingedrückt. Andere im Hotel hatten nicht so viel Glück. Der Flughafen selbst war verschont geblieben, nicht jedoch das zufällig dort startbereit stehende Flugzeug, da es nicht verankert war. Aber die Flughafenbeamten zeigten sich verschreckt und hatten Angst. Sie wussten nicht, ob die Zerstörung der Startschlaufe nur eine Einzelaktion der Terroristen war oder der Anfang einer Revolution  – keiner schien aber anzunehmen, dass es sich lediglich um einen Unfall handeln könnte. Es war Furcht einflößend, allerdings. In einer Lofstromschlaufe ist verdammt viel Energie gespeichert. Mehr als zwanzig Kilometer Eisenband, mit einem Gewicht von etwa fünftausend Tonnen, bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von zwölf Kilometern pro Sekunde. Aus Neugier wandte ich mich später an Albert. Er sagte mir, dass man 3,6 mal 1014 Joules benötigte, um es hochzupumpen. Wenn es zusammenbricht, werden alle diese Joules auf die eine oder andere Art zur selben Zeit freigesetzt.

Ich fragte Albert später; denn damals konnte ich ihn nicht fragen. Selbstverständlich rief ich ihn und jedes andere Datenbeschaffungs- oder Informationsprogramm, das mir erklären konnte, was los war. Aber die Kommunikationssysteme waren blockiert. Wir waren abgeschnitten. Nur das Nachrichten-PV funktionierte noch. Wir standen da und sahen zu, wie die Pilzwolke größer wurde, und hörten die Schadensmeldungen. Eine Raumfähre hatte gerade auf der Schlaufe beschleunigt, als sie in die Luft ging – das war die erste Explosion gewesen. Vielleicht hatte sie die Bombe an Bord. Drei andere waren auf der Ladespur gewesen. Über zweihundert Menschen waren jetzt Hackfleisch, dabei waren noch nicht die mitgezählt, die an der Startrampe gearbeitet hatten oder sich in den Dutyfreeshops und Bars darunter befanden oder nur einen Spaziergang in der Nähe gemacht hatten. »Ich wünschte, ich könnte Albert erreichen«, murmelte ich zu Essie.