Da stand nun meine verlorene Liebe, Gelle-Klara Moynlin, noch verlorener als vorher, ehe man sie gefunden hatte. Sie kannte Gateway gut. Aber das Gateway, das sie kannte, gab es nicht mehr. Ihr Leben hatte einen Herzschlag übersprungen, und alles, was sie kannte oder an dem ihr gelegen hatte, an dem sie interessiert gewesen war, hatte die Veränderungen eines Drittels eines Jahrhunderts mitgemacht, während sie wie eine verzauberte Prinzessin im Wald die Zeit verschlafen hatte. »Viel Glück!«, hatte Wan ihr gewünscht. Aber worin bestand das Glück für eine schlafende Schöne, deren Prinz eine andere geheiratet hatte? »Ein kleines Darlehen«, hatte Wan gesagt. Es stellte sich heraus, dass er es auch so gemeint hatte. Zehntausend Dollar. Genug, um ihre Rechnungen ein paar Tage lang zu bezahlen – und danach?
Es müsste aufregend sein, dachte Klara, mehr über die Tatsachen herauszufinden, wegen derer Leute wie sie ihr Leben gelassen hatten. Sobald sie ein Zimmer gefunden und etwas gegessen hatte, machte sie sich auf den Weg zur Bibliothek. Dort gab es nicht mehr die Spulen mit Magnetbändern. Alles war jetzt auf einer Art Hitschi-Gebetsfächer der zweiten Generation gespeichert. (Gebetsfächer! Also so sahen die Dinger aus!) Klara musste einen Angestellten mieten, der ihr beibrachte, wie man sie benutzte. (»Bibliotheksdienste à $ 125/Std., $ 62,50« stand auf ihrem Datenbon.) War es das wert?
Zu Klaras unangenehmer Überraschung – nicht wirklich. So viele Fragen beantwortet! Aber merkwürdigerweise so wenig Freude über die Antworten.
Als Klara noch ein Gateway-Prospektor wie alle anderen war, entschieden diese Fragen buchstäblich über Leben und Tod. Was bedeuteten die Symbole auf den Steuerinstrumenten der Hitschi-Schiffe? Welche Einstellung bedeutete Tod? Welche Belohnung? Jetzt gab es die Antworten, vielleicht nicht vollständig – es gab immer noch keinen brauchbaren Hinweis für die Beantwortung der großen, Schauder einflößenden Frage, wer die Hitschi eigentlich waren. Dafür gab es tausende und abertausende von Antworten, ja sogar Antworten auf Fragen, die man vor dreißig Jahren noch gar nicht hätte stellen können, weil man nicht genug wusste.
Aber die Antworten machten ihr nicht viel Spaß. Die Fragen verloren an Dringlichkeit, wenn man wusste, dass die Antworten hinten im Buch standen.
Nur bei einer Gruppe von Fragen waren die Antworten für Klara interessant. Und diese Gruppe betraf – ich weiß es genau – mich.
Robinette Broadhead? Aber sicher. Über ihn war viel gespeichert. Ja, er war verheiratet. Ja, er lebte und sogar sehr gut. Unverzeihlicherweise schien er auch rundum glücklich zu sein. Beinahe ebenso schlimm – er war alt. Er war natürlich nicht schrumpelig und hinfällig, sondern hatte noch volles Haar und ein faltenloses Gesicht, aber das verdankte er nur dem medizinischen Vollschutz, dem niemals versagenden Spender von Gesundheit und Jugend für die, welche es sich leisten konnten. Robinette Broadhead konnte sich offensichtlich alles leisten. Aber trotzdem war er älter geworden. Sein Hals war eindeutig dicker geworden, und das Selbstvertrauen beim Lächeln, das ihr auf dem PV-Schirm entgegenstrahlte, hatte dem verängstigten, verstörten Mann gefehlt, der ihr einen Zahn ausgeschlagen und ewige Liebe geschworen hatte. Jetzt hatte Klara eine quantitative Angabe für das Wort »ewig«. Es umfasste einen Zeitabschnitt, der deutlich unter dreißig Jahren lag.
Ich kannte Gelle-Klara Moynlin nicht, als Robin romantische Beziehungen zu ihr unterhielt. Ja, ich hatte damals auch Robinette Broadhead noch nicht kennen gelernt, da er zu arm war, um sich ein so hoch entwickeltes DateneinhoIsystem wie mich leisten zu können. Obwohl ich physischen Mut nicht empfinden kann (da ich auch physische Angst nicht kenne), schätze ich ihren sehr hoch ein. Ihre Dummheit beinahe so hoch. Sie hatten keine Ahnung, was die ÜLG-Schiffe antrieb, die sie flogen. Sie wussten nicht, wie die Navigation funktionierte oder wie man die Steuerung bediente. Sie konnten die Hitschi-Karten nicht lesen, weil sie erst ein Jahrzehnt später gefunden wurden, nachdem Klara in das Schwarze Loch gesogen worden war. Es erstaunt mich aber, wie viel fleischliche Intelligenzen mit so wenig Information fertig bringen.
Nachdem sie sich in der Bibliothek ausreichend Gründe verschafft hatte, sich deprimiert zu fühlen, schlenderte sie auf Gateway umher, um zu sehen, was sich alles verändert hatte. Der Asteroid war viel unpersönlicher und zivilisierter geworden. Es gab jetzt viele Geschäfte. Einen Supermarkt, eine Schnellimbisskette, ein Stereotheater, einen Gesundheitsclub, hübsche neue Pensionen für Touristen und glitzernde Souvenirläden. Man konnte jetzt auf Gateway viel unternehmen. Aber Klara nicht. Am meisten reizte sie das Spielcasino in der »Spindel«, dem Ersatz für die alte »Blaue Hölle«. Aber solchen Luxus konnte sie sich nicht leisten.
Sie konnte sich eigentlich gar nichts leisten, das deprimierte sie. Als Klara noch ein junges Mädchen war, waren die Frauenzeitschriften voll mit lustigen kleinen Tricks, wie man eine Depression bekämpfte. Mach den Spülstein sauber! Ruf jemand am PV an! Wasch dir die Haare! Aber Klara hatte keinen Spülstein, und wen sollte sie auf Gateway anrufen? Nachdem sie sich zum dritten Mal die Haare gewaschen hatte, musste sie wieder an die »Blaue Hölle« denken. Ein paar kleinere Einsätze würden ihren Etat nicht zu sehr belasten, selbst wenn sie verlor, entschied sie; es würde nur bedeuten, eine Zeit lang ohne größeren Luxus zu leben …
Elfmal rollte die Kugel aus, dann war Klara pleite. Eine Gruppe von Touristen aus Gabonia verließ gerade lachend und stolpernd das Casino, als Klara hinter ihnen an der kleinen, engen Bar Dolly sitzen sah. Klara ging geradewegs auf sie zu und fragte: »Würden Sie mir ’nen Drink spendieren?«
»Na sicher«, antwortete Dolly ohne große Begeisterung und gab dem Barmann ein Zeichen.
»Und könnten Sie mir auch etwas Geld leihen?«
Dolly lachte überrascht auf. »Alles verspielt, was? Junge, Junge, da sind Sie aber an die falsche Adresse geraten! Ich könnte mir keinen Tropfen kaufen, wenn mir nicht einige der Touristen ein paar Chips zugeworfen hätten, damit sie Glück haben.« Als der Highball eintraf, teilte Dolly ihre restlichen Münzen auf und schob Klara eine Hälfte zu. »Sie könnten es bei Wan noch mal versuchen!«, schlug sie vor. »Aber er ist nicht besonders in Stimmung.«
»Das ist nicht neu«, stellte Klara fest und hoffte, dass der Whisky ihre Stimmung heben würde. Tat er aber nicht.
»Ach, noch schlimmer als sonst. Ich glaube, er sitzt bald ganz tief in der Scheiße.« Dolly hatte Schluckauf und machte große Augen.
»Was ist denn los?«, fragte Klara zögernd. Sie wusste ganz genau, dass Dolly ihr alles erzählen würde, nachdem sie sie gefragt hatte. Aber dadurch konnte sie sich für das Kleingeld revanchieren.
»Früher oder später werden sie ihn erwischen«, prophezeite Dolly und nuckelte an ihrem Drink. »Er ist so ein übler Schieber. Kommt hierher, wo er Sie doch woanders hätte absetzen können, bloß damit er seine verdammten Süßigkeiten und Kuchen kaufen kann.«
»Also, ich bin lieber hier als irgendwo anders«, sagte Klara und überlegte, ob das auch stimmte.
»Seien Sie nicht albern! Er hat es nicht Ihretwegen getan. Er hat es getan, weil er glaubt, dass er überall mit allem durchkommt. Weil er ein Schieber ist.« Trübsinnig starrte sie in ihr Glas. »Er ist sogar im Bett ein Schieber, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er vögelt wie ein Schieber. Er sieht mich dabei an, als ob er versuchte, sich an die Zahlenkombination eines Safes zu erinnern. Dann zieht er mich aus und drückt hier, bohrt da und schiebt sein Ding hin und her. Ich glaube, ich sollte eine Betriebsanleitung für ihn schreiben. So ’n Schieber!«
Wie viele Drinks Dollys kleiner Gewinn vorhielt, konnte Klara nicht sagen – auf alle Fälle mehrere. Irgendwann später erinnerte sich Dolly daran, dass sie noch Mischgebäck und Likörpralinen kaufen musste. Noch später bekam Klara, die wieder allein herumschlenderte, plötzlich Hunger. Das lag am Geruch, der von nicht weither zu kommen schien. Sie hatte immer noch etwas von Dollys Kleingeld in der Tasche. Es reichte zwar nicht für ein anständiges Essen, und eigentlich wäre es vernünftiger gewesen, zurück zu ihrer Pension zu gehen und dort die bereits bezahlte Mahlzeit einzunehmen. Aber warum sollte sie noch vernünftig sein? Außerdem kam der Duft ganz aus der Nähe. Sie ging durch eine Art Arkade aus Hitschi-Metall, bestellte irgendetwas und setzte sich so nah an die Wand, wie es möglich war. Dann pflückte sie das Sandwich mit den Fingern auseinander, um zu sehen, was sie aß. Wahrscheinlich synthetisch. Es schmeckte aber nicht so wie die Produkte aus den Nahrungsgruben oder den Meeresfarmen, die sie kannte. Gar nicht schlecht. Nicht sehr schlecht, wenigstens. Eigentlich fiel ihr zu diesem Zeitpunkt kein Gericht ein, das ihr wirklich gut geschmeckt hätte. Sie aß langsam und analysierte jeden Bissen, nicht so sehr, weil das Essen dies verdiente, sondern weil sie dadurch den nächsten Schritt aufschieben konnte, nämlich zu überlegen, was sie mit dem Rest ihres Lebens nun anfangen sollte.