»Wan hat Gateway verlassen. Nicht einen Augenblick zu früh. Er hatte Schwierigkeiten mit der Gateway AG und vielen anderen. Ich will aber nicht über Wan sprechen. Ich habe eine Frau in meinem Lokal gesehen, die der Frau sehr ähnlich war, liebster Robin, die du vor mir geliebt hast – Gelle-Klara Moynlin. Sie war ihr so ähnlich, dass ich dachte, sie sei vielleicht die Tochter.«
Ich starrte sie an. »Was … woher weißt du überhaupt, wie Klara ausgesehen hat?«
»Ach, Robin«, entgegnete sie ungeduldig. »Fünfundzwanzig Jahre – und ich bin Spezialist im Datenabrufen! Du glaubst, ich könnte das nicht arrangieren? Ich kenne sie genau, Robin. Jedes Detail ist aufgezeichnet.«
»Ja, aber … sie hatte nie eine Tochter.« Ich hielt inne. Plötzlich war mir der Gedanke gekommen, ob ich das auch sicher wusste. Ich hatte Klara sehr geliebt, aber nicht sehr lange. Es war durchaus möglich, dass es in ihrem Leben Dinge gab, die sie mir in der kurzen Zeit gar nicht hatte erzählen können.
»Ehrlich«, fuhr Essie verlegen fort. »Mein erster Gedanke war, sie sei vielleicht deine Tochter. Theoretisch, du verstehst? Aber es wäre möglich. Du könntest der Lady ein Kind gemacht haben, oder? Aber jetzt …« Sie wandte sich wieder Albert zu. »Albert! Bist du mit dem Suchen fertig?«
»Ja, Mrs. Broadhead.« Er nickte und schaute ernst drein. »In Gelle-Klara Moynlins Akten findet sich kein Hinweis, dass sie je ein Kind geboren hat.«
»Und?«
Er machte sich umständlich mit seiner Pfeife zu schaffen. »Es besteht kein Zweifel in Bezug auf die Identität, Mrs. Broadhead. Sie ist vor zwei Tagen angekommen – mit Wan.«
Essie seufzte. »Dann gibt es keinen Zweifel, dass die Frau im Lokal Klara und keine Schwindlerin war«, folgerte sie tapfer.
In diesem Augenblick, in dem ich mich bemühte, das zu erfassen, was man mir soeben mitgeteilt hatte, in diesem Augenblick wünschte ich mir am sehnlichsten die lindernde, heilende Anwesenheit meines alten Psychoanalyseprogramms, Sigfrid Seelenklempner. Ich brauchte Hilfe.
Klara? Lebendig? Hier? Wenn das unmöglich Scheinende wahr war, was sollte ich tun?
Es war leicht, mir einzureden, dass ich Klara nichts schuldete, dass ich alles bezahlt hatte. Die Währung, mit der ich bezahlte, war lange Trauer, tiefe und treue Liebe, ein Gefühl des Verlusts, das auch drei Jahrzehnte nicht ganz zum Verstummen bringen konnten. Und zwischen uns war ein Abgrund, den ich nicht überbrücken konnte. Erträglich machte das für mich nur, dass ich schließlich doch gelernt hatte zu glauben, dass es nicht meine Schuld war.
Aber nun hatte sich dieser Abgrund irgendwie selbst überbrückt. Sie war hier! Und ich war hier – mit meiner Frau und einem gut geordneten Leben und keinem Platz für die Frau, der ich versprochen hatte, sie immer und ausschließlich zu lieben.
»Da ist noch mehr«, sagte Essie und beobachtete mein Gesicht.
Ich war in dem Moment kein guter Gesprächspartner. »Ja?«
»Noch mehr. Wan ist mit zwei Frauen gekommen, nicht nur mit einer. Die zweite ist Dolly Walthers, die untreue Frau des Mannes, den wir in Rotterdam getroffen haben, erinnerst du dich? Junge Person. Vom Weinen ist ihr Augen-Make-up verschmiert – sonst eine hübsche junge Frau, aber nicht mit hübschen Gedanken. Die U.S.-Militärpolizei hat sie verhaftet, als Wan ohne Erlaubnis abflog. Also bin ich zu ihr gegangen und wollte mit ihr reden.«
»Dolly Walthers?«
»Robin, bitte, hör zu! Ja, Dolly Walthers. Sie konnte mir nur wenig sagen, weil die MPs andere Pläne mit ihr hatten. Die Amerikaner wollen sie ins Hohe Pentagon bringen. Die Brasilianer versuchten das zu stoppen. Großer Krach. Aber die Amerikaner haben schließlich gewonnen.«
Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich verstanden hatte. »Kapiere! Die Amerikaner haben Dolly Walthers verhaftet.«
Essie sah mich scharf an. »Geht es dir auch gut, Robin?«
»Aber sicher! Ich fühle mich wohl. Ich mache mir nur wegen der Spannungen zwischen den Amerikanern und den Brasilianern Sorgen. Ich hoffe, dass dieser Vorfall sie nicht davon abhält, ihre Daten zu koordinieren.«
»Ah«, sagte Essie, »jetzt verstehe ich. Du warst in Sorge, ich war aber nicht sicher, worüber.« Dann biss sie sich auf die Lippe. »Entschuldige bitte, liebster Robin. Ich bin auch ein bisschen durcheinander, glaube ich.«
Sie setzte sich auf die Bettkante und zuckte empfindlich zusammen, als die anisokinetische Matratze nach ihr stieß. »Die praktische Seite zuerst«, entschied sie und runzelte die Stirn. »Was machen wir jetzt? Hier die Alternativen: Erstens, abfahren wie geplant und das Objekt untersuchen, das Walthers gefunden hat. Zweitens, wir versuchen mehr Informationen über Gelle-Klara Moynlin zu bekommen. Drittens, wir essen und schlafen eine Nacht, ehe wir irgendetwas unternehmen – weil«, fügte sie tadelnd hinzu, »du nicht vergessen darfst, Robin, dass du immer noch Rekonvaleszent nach einer schweren Abdomenoperation bist. Ich persönlich bin für Alternative drei. Was denkst du?«
Während ich noch über diese schwierige Frage nachdachte, räusperte sich Albert.
»Mrs. Broadhead? Mir ist gerade eingefallen, dass es nicht sehr teuer wäre, vielleicht ein paar hunderttausend Dollar, einen Eimer für ein paar Tage zu chartern und ihn auf eine Fotoaufklärungsmission hinauszuschicken.« Ich sah zu ihm hin und versuchte, seinen Gedankengängen zu folgen. »Er könnte das Objekt, an dem Sie interessiert sind, aufspüren«, erklärte er weiter. »Dann beobachten und uns darüber Bericht erstatten. Schiffe für einen einzelnen Passagier sind im Augenblick nicht sehr gefragt, glaube ich. Außerdem sind davon mehrere auf Gateway vorhanden.«
»Was für eine gute Idee!«, rief Essie. »Das wollen wir machen, ja? Arrangiere alles, Albert! Und gleichzeitig koch etwas besonders Leckeres für unser erstes Essen auf, äh, auf dem neuen Schiff Wahre Liebe!«
Da ich nichts dagegen hatte, machten wir es so. Ich brachte keinen Einwand vor, weil ich im Schockzustand war. Das Schlimmste daran ist, man weiß nicht, dass man sich im Schockzustand befindet. Ich hielt mich für hellwach und klar. Ich aß, was man mir vorlegte, und bemerkte nichts Merkwürdiges, bis Essie mich in das große, federnde Bett steckte.
»Warum sagst du nichts?«, fragte ich.
»Weil du die letzten zehnmal, wenn ich mit dir gesprochen habe, nicht geantwortet hast«, stellte sie ohne jeden Vorwurf fest. »Ich sehe dich morgen früh.«
Mir war gleich klar, was das zu bedeuten hatte. »Du willst in der Gästekabine schlafen?«
»Ja. Nicht aus Ärger, Liebes, auch nicht aus Kummer. Will dich nur ein bisschen allein lassen, ja?«
»Naja … Ich meine, ja! Sicher, Liebling. Das ist wahrscheinlich eine gute Idee«, räumte ich ein. Langsam dämmerte es mir, dass Essie wirklich verstört war und sie nicht wollte, dass ich mir ihretwegen Sorgen machte. Ich nahm ihre Hand und küsste das innere Handgelenk, ehe ich sie gehen ließ. Ich raffte mich sogar noch zu einem Gespräch auf. »Essie? Hätte ich dich fragen sollen, ehe ich dem Schiff einen Namen gab?«
Sie spitzte den Mund. »Wahre Liebe ist ein guter Name«, meinte sie verständnisvoll.
Trotzdem schien sie noch Vorbehalte zu haben. Ich wusste nicht, warum. »Ich hätte dich gefragt«, begründete ich mein Verhalten. »Aber es kam mir so schäbig vor, den Menschen zu fragen, nach dem man das Schiff nennen will. Das wäre genauso, als würde ich dich fragen, was du dir zum Geburtstag wünschst, statt mir selbst darüber den Kopf zu zerbrechen.«
Sie lächelte entspannt. »Robin, Liebes, aber du fragst sonst immer. Nicht wichtig, ehrlich! Und, ja, Wahre Liebe ist ein wirklich hervorragender Name, jetzt wo ich weiß, dass die wahre Liebe, an die du gedacht hast, ich bin.«