Er sah mir direkt in die Augen. Trotzdem konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, weil sein Gesicht verschwommen wurde. Es war beinahe so, als wäre er ein Bild im PV, und etwas ging gerade in den Schaltkreisen kaputt, sodass das Bild sich langsam ausblendete.
Ausblendete? Oder sich verflüchtigte? »Sigfrid«, rief ich, »bitte! Sag uns, was Albert so erschreckt hat, dass er weggelaufen ist! Oder, wenn du das nicht kannst, bring ihn her, damit wir mit ihm reden können!«
Mehr Schlieren. Ich konnte nicht einmal mehr erkennen, ob er mich noch ansah. »Sag es mir!«, befahl ich ihm, und aus dem verschwommenen holographischen Schemen kam eine Antwort:
»Der Kugelblitz.«
»Was? Was ist ein Kugelblitz?« Frustriert sah ich in die Runde. »Verdammt noch mal! Hol ihn her, damit er es uns selbst erklären kann.«
»Er ist hier, Robin«, flüsterte mir Essie ins Ohr.
Das Bild wurde wieder scharf. Aber es war nicht mehr Sigfrid. Das schmale Freud’sche Gesicht war weicher geworden und hatte sich in das des liebenswürdigen deutschen Kapellmeisters mit Hängebäckchen verwandelt. Ein weißer Haarschopf krönte die traurigen Augen meines besten und engsten Freundes Albert.
»Hier bin ich, Robin«, meldete sich Albert Einstein kummervoll. »Ich danke dir für deine Hilfe. Ob du mir allerdings danken wirst, weiß ich nicht.«
Albert hatte Recht. Ich dankte ihm nicht.
Albert hatte aber auch Unrecht – oder Recht aus falschem Grund; denn der Grund, warum ich ihm nicht dankte, war nicht, dass alles, was er vortrug, so grauenvoll unerfreulich, so schaurig unverständlich war, sondern weil ich mich nicht dazu in der Lage fühlte, als er mit seiner Rede zu Ende war.
Meine Lage war nicht viel besser, als er anfing. Das Nachlassen der Spannung, als er zurückkam, führte bei mir zu völliger Apathie. Ich war erschöpft. Aufgebraucht. Es war durchaus zu erwarten, dass ich erschöpft war, sagte ich mir. Schließlich war das der schlimmste Stress gewesen, weiß der Himmel, in dem ich mich je befunden hatte. Ich fühlte mich aber schlechter als nur erschöpft. Ich fühlte mein Ende nahen. Es waren nicht nur mein Bauch oder meine Arme oder Kopf. Es war, als ob die ganze Energie gleichzeitig aus allen Batterien abgelassen würde. Ich musste alle Konzentration, zu der ich noch fähig war, zusammennehmen, um aufzupassen, was Albert zu sagen hatte.
»Ich war nicht in einer ›Fugue‹, wie du es nennst«, erklärte er und spielte mit seiner kalten Pfeife in den Fingern. Er hatte sich nicht die Mühe gegeben, komisch zu sein. Er trug ein Sweatshirt und Hosen, seine Füße steckten in Schuhen, und die Schuhbänder waren gebunden. »Es ist richtig, dass die Dichotomie existierte und dass sie mich anfällig machte … Sie verstehen, Mrs. Broadhead, ein Widerspruch in meiner Programmierung. Ich erkannte, dass ich mich im Kreis drehte. Da Sie mich homöostatisch angelegt haben, gab es einen anderen Befehclass="underline" die Betriebsstörung beheben!«
Essie nickte mit Bedauern. »Homöostase, ja. Aber Selbstreparatur schließt Selbstdiagnose ein. Du hättest mich um eine Untersuchung bitten sollen!«
»Das dachte ich nicht, Mrs. Broadhead«, widersprach er. »Mit Verlaub, die Schwierigkeiten befanden sich auf Gebieten, für die ich besser ausgerüstet bin als Sie.«
»Kosmologie, ha!«
Ich raffte mich auf, etwas zu fragen – das war nicht leicht, weil die Lethargie so stark war. »Würde es dir etwas ausmachen, Albert, uns bitte zu verraten, was du gemacht hast?«
Langsam antwortete er: »Was ich tat, war nicht schwierig, Robin. Ich beschloss zu versuchen, die Konflikte zu lösen. Ich weiß, dass sie mir wichtiger erscheinen als dir. Du bist völlig glücklich, ohne Antworten auf kosmologische Fragen gefunden zu haben. Ich kann das nicht. Ich widmete immer mehr meiner Kapazität diesen Studien. Du wirst vielleicht nicht wissen, dass ich eine große Zahl Hitschi-Fächer in die Datenspeicher dieses Schiffes eingebaut habe, von denen einige noch nie richtig ausgewertet wurden. Es war eine schwierige Aufgabe. Gleichzeitig stellte ich auch eigene Beobachtungen an.«
»Was hast du gemacht, Albert?«, flehte ich ihn an.
»Aber das ist, was ich getan habe. In den Hitschi-Datenspeichern fand ich viele Hinweise auf das, was wir die ›fehlende Masse‹ genannt haben. Erinnerst du dich, Robin? Die Masse, die für das Gravitationsverhalten des Universums verantwortlich sein müsste, die aber kein Astronom finden konnte und …«
»Ich erinnere mich!«
»Ja. Nun, vielleicht habe ich sie gefunden.« Er saß da und grübelte einen Augenblick lang. »Ich befürchte, dass das aber nicht mein Problem gelöst hat. Es machte es nur schlimmer. Wenn du mich nicht mittels dieses gerissenen Tricks erreicht hättest, indem du durch mein Unterprogramm Sigfrid zu mir sprachst, würde ich vielleicht jetzt noch Loopings drehen …«
»Was gefunden?«, rief ich. Der Adrenalinstoß lenkte mich beinahe, wenn auch nicht ganz, von dem ab, was mir mein Körper über seine Beschwerden signalisierte.
Er wies mit der Hand zum Bildschirm. Ich sah, dass da etwas drauf war.
Auf den ersten flüchtigen Blick ergab das, was zu sehen war, keinen Sinn. Als ich einen zweiten darauf warf, diesmal etwas genauer, ließ er mich erstarren.
Aber das war nicht das Wichtige.
Auf dem Schirm war fast nichts zu erkennen. An einer Kante sah man einen Lichtwirbel – eine Galaxie natürlich. Mir kam sie so vor wie M-31 in Andromeda, wenn man sie vergleichen wollte. Aber ich bin kein Experte auf dem Gebiet der Galaxien. Vor allem nicht, wenn ich sie ohne irgendwelche Sterntupfer darum sehe. Und hier gab es keine solchen Tupfer. Es gab aber etwas, das wie Sterne aussah. Kleine Lichtpunkte hier und dort. Aber es waren keine Sterne, weil sie wie elektrische Weihnachtskerzen blinkten und flackerten. Stellen Sie sich ein paar Dutzend Glühwürmchen in einer kalten Nacht vor, die wegen der Kälte ihre Liebessehnsucht nicht sehr oft aufleuchten lassen und so weit weg sind, dass man sie nur schwer erkennen kann. So etwa sahen die Lichtpunkte aus.
Das auffälligste Objekt unter ihnen, wenn auch nicht sehr auffällig, war etwas, das ein bisschen wie das nicht rotierende Schwarze Loch aussah, in dem ich einst Klara verloren hatte. Es war aber nicht so groß und nicht so Furcht einflößend. All das war merkwürdig, aber das war es nicht, was mich nach Luft schnappen ließ. »Es ist ein Schiff!«, flüsterte Dolly zitternd. Und so war es.
Albert sah das auch so. Er drehte sich herum. »Das ist ein Schiff, ja, Mrs. Walthers«, bestätigte er ernst. »Es ist das Hitschi-Schiff, das wir zuvor gesehen haben. Da bin ich mir fast sicher. Ich habe mir überlegt, wie ich mit ihm Verbindung aufnehmen kann.«
»Verbindung! Mit den Hitschi! Albert!«, rief ich. »Ich weiß, dass du verrückt bist; aber bist du dir denn nicht im Klaren, wie gefährlich das ist?«
»Was die Gefahr anbelangt«, entgegnete Albert ruhig, »habe ich viel mehr Angst vor dem Kugelblitz.«
»Kugelblitz?« Jetzt war es völlig mit meiner Geduld vorbei. »Albert, du Idiot! Ich habe keine Ahnung, was ein Kugelblitz ist, und es ist mir auch scheißegal. Nicht egal ist mir, dass du uns beinahe umgebracht hast und …«
Ich hielt inne, weil Essies Hand sich über meinen Mund legte. »Sei still, Robin«, zischte sie. »Willst du ihn wieder zur Fugue treiben? Also, Albert«, sagte sie ganz ruhig, »jetzt erkläre uns bitte, was ein Kugelblitz ist. Das Ding sieht für mich eigentlich wie ein Schwarzes Loch aus.«
Er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Das zentrale Objekt, meinen Sie? Ja, es ist eine Art Schwarzes Loch. Aber es gibt dort nicht nur ein Schwarzes Loch. Es gibt viele. Ich war noch nicht in der Lage zu zählen, wie viele, da sie nur dann wahrgenommen werden können, wenn Materie in sie stürzt und Strahlung verursacht. Und es gibt nicht viel Materie hier draußen zwischen den Galaxien …«