Sigfrid steht auf, vertritt sich die Beine und geht zu einem bequemeren Sessel. Dass er das kann, habe ich auch nicht gewusst.
»Ich will dich beruhigen, wie du merkst«, sagt er. »Zuerst möchte ich dir etwas über meine Fähigkeiten sagen – und über deine –, die du wohl nicht kennst. Ich kann Informationen über jeden meiner Klienten liefern. Das heißt, du bist nicht beschränkt auf jene, die Zugang zu diesem einen Terminal hatten.«
»Ich glaube, das verstehe ich nicht.«
»Du wirst es gleich verstehen. Wenn du willst. Wichtiger ist aber, welche Erinnerung du zu unterdrücken versuchst. Ich halte es für notwendig, die Sperre zu lösen. Ich möchte deshalb ein bestimmtes Ereignis mit dir besprechen.«
Ich schnippe Asche von meiner Zigarette.
»Was meinst du, Sigfrid?«
»Deinen letzten Flug von Gateway aus, Bob. Ich will dein Gedächtnis auffrischen …«
»Um Himmels willen, Sigfrid!«
»Ich weiß, dass du dich genau erinnerst, und insoweit bedarf es keiner Auffrischung«, sagt er. Er hat mich genau verstanden. »Das Interessante an dieser Episode ist, dass alle Elemente deiner inneren Störung darin zu konvergieren scheinen. Deine ungeheure Angst. Deine homosexuellen Neigungen …«
»He!«
»… die, gewiss, nicht einen wesentlichen Teil deiner Geschlechtlichkeit darstellen, Bob, die dich aber mehr beschäftigen, als sinnvoll ist. Deine Gefühle deiner Mutter gegenüber. Die ungeheure Bürde an Schuld, die du dir auferlegt hast. Und vor allem Gelle-Klara Moynlin. All das taucht in deinen Träumen immer wieder auf, obwohl du es nicht oft erkennst. Und in dieser einen Episode sind sie alle versammelt.«
Ich drücke meine Zigarette aus und sehe, dass ich zwei gleichzeitig geraucht habe.
»Das mit meiner Mutter sehe ich aber nicht«, wende ich ein.
»Nein?« Das Hologramm, das ich Sigfrid Seelenklempner nenne, geht in eine Ecke. »Ich will dir ein Bild zeigen.« Er hebt die Hand – reines Theater, das weiß ich –, und in der Ecke taucht die Gestalt einer Frau auf. Nicht sehr deutlich, aber erkennbar jung, schlank und hustend.
»Sieht meiner Mutter nicht sehr ähnlich«, sage ich.
»Nein?«
»Na ja, besser kannst du es wohl nicht«, meine ich großzügig. »Du hast ja nichts als meine Beschreibung.«
»Das Bild ist nach deiner Beschreibung von Susie Hereira gefertigt«, sagt er ganz leise.
Ich zünde mir wieder eine Zigarette an, unter Schwierigkeiten, weil meine Hand zittert.
»Mensch«, sage ich bewundernd. »Ich ziehe den Hut vor dir, Sigfrid. Sehr interessant. Susie war natürlich nur ein Kind!«, setze ich hinzu, plötzlich gereizt. »Abgesehen davon erkenne ich – jetzt, meine ich –, dass es Ähnlichkeiten gibt. Aber das Alter stimmt ganz und gar nicht.«
»Bob, wie alt war deine Mutter, als du klein warst?«
»Sehr jung«, antworte ich nach einer kurzen Pause. »Sie sah sogar noch viel jünger aus.«
Sigfrid lässt mich so eine Weile hängen, dann winkt er wieder, die Gestalt verschwindet, und stattdessen sehen wir ein Bild von zwei Fünfer-Schiffen, Landefahrzeug an Landefahrzeug mitten im Weltraum, und dahinter ist … ist …
»O Gott, Sigfrid«, stöhne ich.
Er wartet eine Weile. Was mich angeht, kann er ewig warten. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Es tut mir nicht weh, aber ich bin gelähmt. Ich kann nichts sagen, ich kann mich nicht bewegen.
»Das ist eine Rekonstruktion der beiden Schiffe beim Flug in die Nähe des Objekts SAG YY. Es ist ein Schwarzes Loch, oder genauer, eine Singularität in einem Zustand extrem schneller Rotation.«
»Ich weiß, was es ist, Sigfrid.«
»Ja. Wegen seiner Rotation überschreitet die Translationsgeschwindigkeit dessen, was sein Schwellenereignis oder die Schwarzschild-Diskontinuität genannt wird, die Lichtgeschwindigkeit, sodass es nicht richtig schwarz ist; man kann es vielmehr sehen, infolge der so genannten Tscherenkow-Strahlung. Wegen der Instrumentenmessungen dieser und anderer Aspekte der Singularität wurde eurer Expedition eine Prämie von zehn Millionen Dollar zugesprochen, zusätzlich zu der vereinbarten Summe, die zusammen mit anderen, kleineren Beträgen die Grundlage deines jetzigen Vermögens darstellt.«
»Das weiß ich auch, Sigfrid.«
»Möchtest du mir sagen, was du sonst noch darüber weißt?«
Pause.
»Ich bin nicht sicher, ob ich es kann, Sigfrid.« Wieder eine Pause. Ich bin von grenzenloser Angst erfüllt, aber über die objektive Realität kann ich sprechen. »Ich weiß nicht, wie viel du über Singularitäten weißt, Sigfrid.«
»Vielleicht sagst du das, was ich deiner Meinung nach wissen sollte, Bob.«
Ich drücke die Zigarette aus und zünde die nächste an.
»Nun, wir, du und ich, wissen, dass alles in deinen Datenspeichern liegt, wenn du wirklich Bescheid wissen willst, aber trotzdem … Der Haken bei Schwarzen Löchern ist der, dass sie Fallen sind. Sie krümmen das Licht. Sie krümmen die Zeit. Sobald du drinnen bist, kannst du nicht mehr heraus. Nur … Nur …«
»Du kannst ruhig weinen, wenn du willst«, sagt Sigfrid nach einer Weile, und da merke ich erst, dass ich weine.
»Mensch«, schluchze ich und schneuze mich in eines der Papiertücher, die er immer für mich bereitlegt. Er wartet.
Bemerkungen über Ernährung
Frage: Was haben die Hitschi gegessen?
Professor Hegramet: Ungefähr das Gleiche wie wir, würde ich sagen. Alles. Ich glaube, sie waren Allesfresser, sie aßen alles, was sie fanden. Wir wissen über ihren Speiseplan gar nichts, aber man kann Schlüsse aus den Schalen-Flügen ziehen.
Frage: Schalenflüge?
Professor Hegramet: Es gibt mindestens vier nachgewiesene Flüge, die nicht zu einem anderen Stern geführt haben, aber das Sonnensystem verließen. Dorthin, wo die Kometenschale ist, ein halbes Lichtjahr entfernt. Die Flüge sind als Misserfolge eingestuft worden, aber dafür halte ich sie nicht. Ich habe den Ausschuss gedrängt, dafür Wissenschaftsprämien zu verteilen. Drei schienen in Meteorenschwärmen zu landen, der andere kam bei einem Kometen heraus, alle hunderte von AE weit draußen. Meteoritenschwärme sind natürlich in der Regel Überreste alter, toter Kometen.
Frage: Wollen Sie damit sagen, die Hitschi hätten Kometen gegessen?
Professor Hegramet: Das gegessen, woraus die Kometen bestehen. Kennen Sie die Bestandteile? Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff – dieselben Elemente, die Sie heute zum Frühstück verzehrt haben. Ich glaube, sie benutzten Kometen als Grundstoff, um herzustellen, was sie aßen. Ich glaube, eine dieser Missionen zur Kometenschale wird früher oder später eine Hitschi-Nahrungsmittelfabrik entdecken, und dann wird es für uns vielleicht nie mehr Hunger geben.
»Nur bin ich herausgekommen«, sage ich.
Und Sigfrid macht etwas, das ich von ihm nie erwartet hätte; er gestattet sich einen Witz.
»Das ist ziemlich offenkundig, angesichts der Tatsache, dass du hier bist«, sagt er.
»Das ist unheimlich anstrengend, Sigfrid«, erwidere ich.
»Für dich gewiss, Bob.«
»Wenn ich wenigstens etwas zu trinken hätte.«
Klick.
»Im Schrank hinter dir steht sehr guter Sherry. Nicht aus Trauben, leider; der Gesundheitsdienst ist nicht für Luxus. Aber du wirst vom Naturgasursprung nichts merken. Und für die Beruhigung der Nerven ist er ein wenig mit THC versetzt.«
»Guter Gott.« Ich kann mich nicht einmal mehr wundern. Der Sherry ist wirklich ausgezeichnet. Ich spüre, wie die Wärme mich erfüllt.
»Gut«, sage ich und stelle das Glas weg. »Als ich nach Gateway zurückkam, hatte man die Expedition abgeschrieben. Wir waren fast ein Jahr überfällig. Weil wir beinahe innerhalb des Ereignishorizonts gewesen waren. Verstehst du etwas von Zeitdehnung? … Lass nur, das war eine rhetorische Frage. Ich meine, was passierte, war die Erscheinung, die man Zeitdehnung nennt. Wenn man so nah an eine Singularität herankommt, hat man es mit einem Zwillingsparadoxon zu tun. Wenn für uns vielleicht eine Viertelstunde verstrichen war, ist anderswo fast ein ganzes Jahr vergangen – auf Gateway oder hier oder sonst irgendwo im nichtrelativistischen Universum, meine ich. Und …« Ich trinke wieder, dann fahre ich tapfer fort: »Und wenn wir noch weiter hinuntergegangen wären, wären wir immer langsamer geworden. Noch näher, und die fünfzehn Minuten wären ein Jahrzehnt gewesen. Noch ein wenig näher, und es wäre ein Jahrhundert geworden. So knapp war das, Sigfrid. Wir saßen fast in der Falle, wir alle miteinander.